„Wir brauchen eine Männerquote“: Interview mit Christoph May
Es ist viel passiert. Es gibt endlich Alternativen zu Herrenclubs, Burschenschaften und esoterischen Männerbewegungen, die sich im Kreis rhythmisch ums Lagerfeuer bewegen und mit nacktem Oberkörper Urschreie ausstoßen. Leider nehmen aber nicht alle das Angebot wahr, sich dem Feminismus anzuschließen und ihre Männlichkeit kritisch zu hinterfragen. Mit den archaischen Projektionen naturig-uriger Geschlechterrollen ist für moderne Feministinnen auch schwer etwas anzufangen. Als Verbündete des Feminismus ist eine Strömung von Männern, die sich mit Männlichkeit auseinandersetzen, aber wichtig, wenn nicht essentiell, nicht zuletzt, um gruseligen Männerbünden wie Pick-up-Artists, Incels und der alternativen Rechten etwas entgegen zu setzen. Starke Ansätze bieten Emma Watsons HeForShe-Kampagne, The Good Men Project oder die Kampagnen von The Representation Project.
Für eine zunehmende Anzahl an Menschen heißt Mann sein nicht, dass man stark und laut sein muss (aber darf), nicht, dass man seine Gefühle unterdrücken muss und nicht, dass man einen Penis haben muss. Aktiv Eltern zu sein ist für alle, Schminken ist für alle, Emotionalität ist für alle, aber auch emotionale und Sorge-, Haushaltsarbeit ist für alle. Also, alles gut jetzt? Nicht ganz.
Toxische Männlichkeit ist in aller Munde. Toxisch, weil sie durch ihre enge und oft subtile, „unsichtbare“ Verquickung mit den herrschenden Machtverhältnissen lange unbemerkt bleibt und so ihre Wirkung verbreiten kann. Es geht um unhinterfragte Männlichkeitsattribute, die sich in unbewussten Verhaltensweisen, Kommunikationsstilen, Einstellungen und verinnerlichten Annahmen über die Welt offenbaren. Diese müssen erst einmal bloßgelegt und benannt werden. Aber wie geht Mann das am besten an? Wir haben einen Spezialisten befragt.
Wepsert: Wie stärkt und empowert man, ohne dass noch mehr Leistungsdruck für Frauen und queere Menschen entsteht? Müssen Diskriminierte jetzt zusätzlich zur Haus- und Sorgearbeit auch noch die Veränderungsarbeit übernehmen?
Christoph May: Natürlich nicht, im Gegenteil, diese Arbeit läge eigentlich bei den Männern. Bisher ignorieren sie das und versuchen, sich rauszureden. Wir sollten den Druck also erhöhen und laut und konkret einfordern, was Männer endlich zu tun haben. Wir müssen männlich dominierte Umgebungen und männliche Privilegien in ausnahmslos allen Lebensbereichen sichtbar machen und radikal in Frage stellen.
Der Feminismus hat bereits 100 Jahre Aufklärung und Kritik hinter sich, bei den Männern geht’s gerade erst los. #MeToo sei Dank! Endlich ist das gesellschaftliche Tabu, kritisch über Männlichkeit zu sprechen, vom Tisch. Wollen wir künftig noch ernst genommen werden mit unserem Werk und Wirken, sollten wir dringend damit beginnen, uns als pro-feministische Verbündete selbstkritisch in Frage zu stellen.
Wespert: Was wären das für Fragen?
Christoph May: Stichwort Männerbund zum Beispiel: Warum habe ich ausschließlich männliche Freunde und Bekannte? Wie kommt es, dass ich mich nur für Männerthemen begeistern kann? Und wieso verdient meine Kollegin deutlich weniger als ich, konkret 27 Prozent? Weil der Gender Pay Gap für mich und meinen Boss schlicht keine Rolle spielt?
Oder Prägung, Erziehung, Familie: Liegt es an mir, dass im Zimmer meiner Söhne kein einziges weibliches Vorbild an der Wand hängt, von dem sie schwärmen? Warum nehmen nicht mal 2,5 (!) Prozent aller Väter mehr als 12 Monate Elternzeit? Und wie kann es sein, dass Frauen im Alter von 34 Jahren im Schnitt doppelt so viel Zeit für Haus- und Sorgearbeit aufwenden müssen? Laut Care Gap satte 87 Minuten. Mit Kindern sogar unfassbare 2 Stunden und 30 Minuten mehr als der Vater. Pro Tag! Unentgeltlich!
Von dem enormen Impact, den hypermaskuline Superhero-Phantasien in Filmen und Serien auf das gesellschaftliche Unterbewusstsein haben, ganz zu schweigen.
Wepsert: Den Deutschen sagt man nach, einen autoritären Charakter zu haben und gegenüber ihren Anführern selbst in repressiven Systemen unbedingten Gehorsam zu zeigen. Das Deutsche Kaiserreich z. B., der Nationalsozialismus konnten auf dem fruchtbaren Boden der Bevölkerung nicht nur gut gedeihen, sondern haben ihre Bedürfnisstrukturen durch Erziehung und Sozialisation bis heute weitervererbt. Die organisierte politische Linke war und ist auch deutlich jenseits der 1970er-Jahre gerne mal von Macho-Mackern bestimmt, die die Deutungshoheit für sich beanspruchen und Parolen dröhnen. Glaubst du, dass die Deutschen in besonderem Maß Sehnsucht nach einem charismatischen Führer oder einem strengen Daddy haben? Und wie ist das Teil der toxischen Männlichkeit?
Christoph May: Die intergenerationale Nachwirkung des Nationalsozialismus auf unser Männerbild war enorm. Das ist nach vier Generationen keineswegs vom Tisch, im Gegenteil. Die Männerphantasien von Theweleit sind wieder hochaktuell. Bolsonaro, Trump, Putin, Kim, Xi, Kurz, Orbán oder Erdoğan aber zeigen, dass diese Sehnsucht nach einem starken Führer kein rein deutsches Phänomen darstellt, sondern vielmehr ein männliches, Stichwort „Körperpanzer“. Wer dazu noch mehr lesen will, kann zum Beispiel mit meinem Artikel anfangen.
Wespert: Meinst du, weil Väter durch Kriege einfach wegsterben und dann andere Vaterfiguren her müssen? Oder die bis heute verbreitete Vorstellung, dass Erziehung Frauensache ist und die Väter raus in die Welt ziehen müssen, um das Geld nach Hause zu bringen?
Christoph May: Sowohl als auch. Hauptproblem in beiden Fällen ist die immanente Abwesenheit der Väter. Lokal und emotional. Wohlgemerkt das größte strukturelle Problem ever. Solange wir nicht mit dauerpräsenten und profeministischen Vaterfiguren aufwachsen, die uns vorleben, wie ein emotional integrer Mann Minimum 50 Prozent Haus- und Sorgearbeit übernimmt, werden wir diese hohle Hoffnung, diese Sehnsucht, von der du sprichst, nur schwer überwinden können. Und es sieht bislang nicht danach aus, als würden wir das lösen wollen. Wir geben es lieber bequem weiter und immer weiter. Der Männeranteil beim Weltwirtschaftsforum lag dieses Jahr übrigens bei 80 Prozent. Wenn Greta Thunberg in Davos also formuliert: „Ich will eure Hoffnung nicht. [...] Ich will, dass ihr in Panik geratet“, weist sie genau diesen männlichen Irrsinn zurück. Die Folgen für kommende Generationen sind verheerend. But most men don’t give a shit.
Wespert: Wohin also mit diesem drängenden und unerfüllten Begehren nach einer Vaterfigur?
Christoph May: Nun, wir haben diese Leugnung, diese Abwehr bereits institutionalisiert und uns darin eingerichtet. Ob beim Fußball, im Glauben, in der Fiktion, beim Zocken oder in der Realpolitik. Vom Business Punk über den Künstler bis zum Sportverein. Nichts prägt und strukturiert unsere Gesellschaft so stark wie der never ending Leidensweg fortwährend suchender und auf Erlösung hoffender Söhne zu ihren emotional abwesenden Vätern. Und leider hat sich dieser christliche Mythos zu einem massiven gesellschaftspsychologischen Dilemma entwickelt, quasi Dauer-Loop. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung par excellence, wie es scheint. Denn auch die Väter sind auf der Suche nach ihren verlorenen Söhnen. Das läuft dann gerne mal missbräuchlich ab, aktuell von Seiten katholischer Triebväter zum Beispiel.
Wepsert: Können wir das Patriarchat einfach wegkuscheln? Oder müssen wir zu Waffen greifen?
Christoph May: Einvernehmliches Wegkuscheln klingt klasse! Aber vorher sollten wir zu den Waffen der Aufklärung greifen. Also raus aus eurem privilegierten Männerbund und hin zu den Frauen! Fragen stellen, zuhören, sich zurücknehmen und lernen. Ob Literatur oder Wissenschaft, gebt endlich euren männlich dominierten Lektüre-Kanon auf! Checkt eure Freundes-, Gaming-, Musik- und Podcast-Listen gnadenlos auf Parität ab! Und schaut mehr Filme und Serien mit weiblichen Protagonist*innen! Aber achtet darauf, dass auch das Drehbuch weiblich und/oder feministisch ist, sonst ist es nur eine weitere schnöde Männerphantasie. Kurzum, verhaltet euch 24/7 selbstkritisch und profeministisch! Über Frauenbilder in Männer-Drehbüchern habe ich übrigens hier geschrieben.
Wepsert: Also sollen die Männer einfach im Feminismus mitlaufen? Was können sie beitragen?
Christoph May: Mitlaufen wäre ein guter Anfang. Als Verbündete natürlich, nicht als Eroberer. Auf jeden Fall müssen wir diesen neuen Diskurs über kritische Männlichkeit und Toxic Masculinity am Laufen halten. Denn wie Birgit Sauer schon 2011 geschrieben hat, erleben wir keineswegs eine Krise, sondern vielmehr eine „Restrukturierung“ von Männlichkeit. „Neoliberale, politische Männlichkeiten im internationalisierten Staat“ stellen sich seit Jahrzehnten neu auf. Und Sauer zeigt sehr überzeugend, wie das genau abläuft. Überraschenderweise ist das Patriarchat alles andere als starr und unflexibel. Wir werden wohl noch eine Weile damit zu kämpfen haben.
Persönlich würde ich schon deshalb nicht von einer Krise der Männlichkeit sprechen, weil das für Frauen wie der blanke Hohn klingen muss.
Wepsert: Dein Appell richtet sich an Privilegierte. Wie möchtest du ihnen schmackhaft machen, ihre Vorrechte abzugeben?
Christoph May: Überreden, bitten und geduldig sein, führt uns nicht weiter. Wir müssen sie Ihnen entreißen! Nehmt den Boys ihr Spielzeug weg. Schluss mit dem immergleichen Visions- und Zukunfts-Bullshit von völlig überarbeiteten Start-Up-, IT- oder Social-Media-Tekkies. Wen bitte interessieren ernsthaft selbstfahrende Autos, Männer auf dem Mars oder das nächste fucking Fußballturnier? Raus aus den Stadien, runter von den virtuellen Schlachtfeldern, und zurück in die Gegenwart, in die Klimakatastrophe, die Überbevölkerung und so weiter. Ist ja nicht so, dass es nichts zu tun gäbe.
Zudem müssen wir in sämtlichen Lebensbereichen gnadenlos faktische Gleichberechtigung erzwingen. Selbstverpflichtungen der Wirtschaft waren seit jeher ein Treppenwitz. Nein, was wir dringender denn je benötigen, ist eine Männerquote! Sofort und auf allen Ebenen. Maximum 40 Prozent in Unternehmen, Politik, Kunst und Kultur. Wer das überschreitet, muss bis zur vollen Parität die Produktion stoppen plus hoher Strafzahlungen für jeden weiteren Tag ohne echte Gleichstellung. Um auf einen steten Strukturwandel zu hoffen, der laut Sauer nicht eintreten wird, bleibt uns schlicht keine Zeit. Oder noch deutlicher: Great, Greater, Greta Thunberg!