Wollen Frauen Alphamänner? Interview mit dem Biologen Dr. Christian Reiß
Misserfolg beim anderen Geschlecht und Verdammnis zur ewigen Einsamkeit – liegt es am fliehenden Kinn? Wepsert fragt einen Biologen.
Incels – von engl. involuntary celibates, also unfreiwillig enthaltsam Lebende – sind eine Gruppe, die sich hauptsächlich im Internet organisieren und darüber austauschen, warum sie keine romantischen und/oder sexuellen Partner abbekommen. 2018 wurde in Toronto ein Amoklauf eines bekennenden Incels begangen, spätestens seitdem sind die Online-Gruppierung und ihre Weltanschauung in aller Munde. In einschlägigen Foren organisieren sich hauptsächlich cis-männliche Heterosexuelle und bestärken sich gegenseitig.
Man könnte nun vermuten, dass sich eine Art Selbsthilfegruppe für frustrierte Single-seit-immer-Männer („forever alone“) gefunden hat, in der sich Männer konstruktiv Tipps geben, wie es mit der Partnersuche besser klappt. Versuche, sich gegenseitig im Flirten zu coachen, mündeten in der Vergangenheit aber eher in den absurden Heilsversprechen der halb magisch, halb steinzeitlichen Geheimlehren der Pick-up-Artists und Maskulinisten um z. B. den Vergewaltigungsbefürworter Daryush – „Roosh V.“ – Valizadeh.
Aber Pick-up-Artists nur am Rande – zurück zu Incels: Helfen sich hier verzweifelt einsame Jungs und Männer bei der Suche nach Partnerinnen? Leider nicht. Bei Orten, an denen sich Incels sammeln, handelt es sich vielmehr um düstere Flecken im Internet, wo Selbst- und Frauenhass, Fertigmache und Gejammer, Sozialdarwinismus und Defätismus sprießen. Dabei argumentieren Incels, wie ordentliche Verschwörungstheoretiker das so machen, auf der Grundlage teilweise wissenschaftlicher Fakten und leiten, im eigenen, nicht-wissenschaftlichen Saft schmorend, ihre ganz eigene Lehre ab.
Gerade im Zusammengepansche von wirklichen Erkenntnissen und simplifizierenden Ableitungen liegen die Gefahr und die traurige Wirkweise solcher Überzeugungssysteme wie der Incel-Welt.
Wepsert wollte wissen, wo das Incel-System irrational wird und auf von welchem Halbwissen ausgegangen wird. Wo kommt diese populäre Praxis her? Dazu haben wir Dr. Christian Reiß befragt, der sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie naturwissenschaftliches Wissen dazu verwendet wird, soziale Verhältnisse als naturgegeben zu begründen.
Incels gehen davon aus, dass ein als „Chad“ bezeichneter Typus Mann im Zentrum des weiblichen Begehrens steht und dass allein körperliche Merkmale, etwa ein deutlich hervortretender Unterkiefer und ausgeprägte Muskulatur die Attraktivität eines möglichen Partners ausmacht. Zur Sicherung ihrer existentiellen Bedürfnisse gingen Frauen die Beziehung zu einem Ernährer ein, dem sie aber nicht treu seien.
Wepsert: Suchen sich Frauen Sexpartner nach körperlichen Merkmalen aus, die auf einen hohen Testosteronspiegel schließen lassen? Sind z. B. ein stark ausgeprägtes Kinn und sichtbare Muskeln ausschlaggebend?
Christian Reiß: Da sollte man am Besten die Frauen fragen. Andererseits scheinen die ja nicht Herr*innen ihrer Sinne zu sein, wenn man den hier angesprochenen Annahmen folgt. Denn wenn man mal etwas genauer darüber nachdenkt, dann ist die Aussage gar nicht mehr so naheliegend, wie sie im ersten Moment vielleicht klingen mag.
Wissenschaftliche Studien, aus deren Ergebnissen solche Zusammenhänge gefolgert werden, sind extrem voraussetzungsreich. Es werden üblicherweise umfrageähnliche Untersuchungen durchgeführt, in deren Kern bereits bestimmte Annahmen stehen. So werden Menschen in isolierten Situationen befragt, die im Alltag sozial und psychologisch sehr komplex sind. Und es wird natürlich nur auf den Zusammenhang Attraktivität – Physis fokussiert. Die Ergebnisse dieser Studien sind dann zuerst einmal korrelativ, weisen auf einen statistischen Zusammenhang hin, ohne etwas über den dahinerstehenden Mechanismus zu sagen. Und sie sehen auch deutlich unspektakulärer aus.
Erst im Zuge von Pressemitteilungen, medialer Schlagzeilenproduktion und in entsprechenden politischen Kontexten werden sie auf die Art zugespitzt, wie sie in deiner Frage formuliert ist. Das andere Problem ist die sogenannte Replikationskrise in den quantitativen Sozialwissenschaften (Psychologie, Soziologie, aber auch Ernährungswissenschaften). Darunter versteht man, dass im heutigen Wissenschaftssystem aus internen und externen Gründen eine unüberschaubare Anzahl an Studien erstellt wird, deren Aussagegehalt quasi gleich null ist. Das Studiendesign und die statistische Auswertung sind zu schlecht, falsch oder manchmal sogar manipulativ, um überhaupt ein Ergebnis für eine Veröffentlichung zu bekommen. Das führt dazu, dass die Ergebnisse von anderen Wissenschaftlern nicht nochmal gezeigt werden können. Diese Diagnose kommt übrigens aus den quantitativen Sozialwissenschaften selbst, die sich hier in einer tiefen methodischen Krise befinden.
Das Interessante an der oben beschriebenen Sichtweise sind die Untertöne bzw. das Narrativ, die hier am Werk sind. Denn es klingt natürlich ganz deutlich eine Art kausaler Zusammenhang an. Und das wäre ja auch eigentlich der nächste Schritt nach der quantitativen Untersuchung. Dann würde man sich doch für die tieferen psychologischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen dieser Zusammenhänge interessieren und auch dafür, dass es doch offensichtlich vor allem Männer gibt, die kein ausgeprägtes Kinn und keine hervorstehenden Muskeln haben. Und Frauen, die offenbar gerne mit ihnen zusammen sind.
Ganz abgesehen davon möchte ich bitte die Studie sehen, die zeigt, dass hervortretende Muskeln physiologisch irgendetwas mit dem Testosteronspiegel zu tun haben. Das klingt schon deutlich nach den Vorstellungswelten, die von vereinfachenden und zugespitzten Formen der Soziobiologie bedient werden. Ich denke hier vor allem an die Evolutionspsychologie. Diese Geschichten funktionieren immer nach dem gleichen Muster: Das Ausgangsszenario ist eine irgendwie naturwüchsige und damit vorkulturell gedachte Urwelt. Hier tummeln sich Beinahe- oder Gerade-so-Menschen, die auf sich alleine gestellt ums Überleben kämpfen (wahrscheinlich mit Säbelzahntigern). Und dann spielen da eben Dinge eine Rolle, die Zivilisationsmenschen im 21. Jahrhundert für überlebenswichtig halten. Hervorstehende Muskeln gehören sicherlich nicht dazu. Deren kulturelle Geschichte hat eher etwas mit Arnold Schwarzenegger und Cristiano Ronaldo zu tun, die beide sicherlich sehr erfolgreich ums Überleben kämpfen, aber eben nicht in der evolutionären Vergangenheit der Menschheit, sondern im Film- und Fussballgeschäft des 21. Jahrhunderts bzw. in der Aufmerksamkeitsökonomie des Spätkapitalismus.
Mit der Phantasie „Kampf ums Dasein“, deren Ursprung deutlich kulturelle und mediale Züge trägt und die mit einer sehr vereinfachten Form von Evolutionsbiologie erklärt wird, soll hier gezeigt werden, warum wir uns so verhalten, wie wir es tun. Dabei ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, über die Entwicklung des Menschen als Naturwesen nachzudenken. Aber dazu gehören auch aktuelle Erkenntnisse aus Fächern wie Ur- und Frühgeschichte oder Paläoanthropologie, die das einfache Bild deutlich komplizierter machen.
Wepsert: Menschen sind auch Tiere. Gibt es bei Menschen auch Alphatiere? Und bekommt ein Alpha Male leichter Sex und/oder eine Partnerin?
Christian Reiß: Dass es beim Menschen Tiere gibt, würde ich natürlich gleich vorweg verneinen. Außer vielleicht im metaphorischen Sinn. Und genauso verhält es sich bei den Alphapersonen – was wohl der passendere Ausdruck wäre. Auch hier handelt es sich um eine Metapher. Insofern kann man sagen, dass es tatsächlich so ist. Alphamänner bekommen leichter Sex und/oder eine Partnerin. Und zwar ganz einfach deswegen, weil ihr Status als Alphamänner genau darüber definiert wird. Alphamänner sind diejenigen, von denen angenommen wird, dass sie sexuell erfolgreicher sind. Die Metapher dient dann dazu, eine Erklärung für diesen Sachverhalt zu finden. In diesem Fall wird die Erklärung im Sozialverhalten von Tieren gesucht.
Wepsert: Warum, glaubst du, sind biologische Erklärweisen so populär? Und wie unterscheide ich Wissenschaft von persönlicher Überzeugung?
Christian Reiß: Das ist eine wirklich spannende, aber auch schwierige Frage. Auf den ersten Blick vermutet man natürlich den eben erwähnten Mensch-Tier-Vergleich, der eine lange Geschichte in allen menschlichen Kulturen hat. Allerdings handelt es sich hier nicht zwingend immer um biologische Erklärungen. Man denke nur an Fabeln, die in die andere Richtung funktionieren.
Biologische Erklärweisen wurden insbesondere im 19. Jahrhundert populär, spätestens mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Durch sie löste sich die absolute Grenze zwischen Menschen und Tieren auf, die vorher geherrscht hatte. Konnte sie erst nur per Metapher oder Analogie überbrückt werden, geht man im Licht der gemeinsamen Abstammung nun von einem tatsächlichen Zusammenhang aus. Daraus ergaben sich auf der einen Seite wichtige Ansätze für anthropologische Fragen. Auf der anderen Seite führte die Überbetonung der biologischen Perspektive zum sogenannten Biologismus, also der Bevorzugung einer biologischen Erklärweise unter Vernachlässigung von relevanten Beiträgen aus anderen Wissenschaften.
Das klassische Beispiel wären hier wissenschaftlich argumentierte Rassetheorien, die nicht nur im Nationalsozialismus politisch angewendet wurden und verheerende Folgen hatten. Bei diesen Theorien wird der Mensch bzw. der als unterlegen angenommene Teil der Menschheit auch ausschließlich über ihre Biologie gesehen, die alles andere bestimmt.
Und hier sieht man auch über die Biologie hinaus den Trugschluss, wenn man in technokratischer Manier denkt, dass man komplexe Probleme ausschließlich aus naturwissenschaftlicher Sicht und mit naturwissenschaftlichen Mitteln lösen kann. Die Naturwissenschaften liefern seit spätestens dem 19. Jahrhundert Wissen und Technologien, die unser Leben grundlegend geändert haben. Und das in vielen Fällen zum Guten. Aber alle Probleme, die den Menschen betreffen, haben auch immer eine soziale, kulturelle und politische Dimension. Und wenn man die außer Acht lässt, wird man das Problem nicht lösen.
Man muss allerdings auch dazu sagen, dass es insbesondere Nichtnaturwissenschaftler*innen sind, die hier die Probleme verursachen. Die Umdeutung einer Metapher, wie die des Alphamännchens, in eine Praxis, die ich eher aus der Populärwissenschaft kenne. So habe zu ihrer Bekanntheit z. B. Tierdokumentationen beigetragen und auch von ihr profitiert, in denen die entsprechenden verhaltensbiologischen Stichworte gegeben wurden. Aber auch Sach- und Ratgebermedien haben hier insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts an einem sehr mächtigen Narrativ mitgeschrieben. Ein ganz anderes Beispiel, das aber viele Ähnlichkeiten aufweist, sind die Paläo-Diäten und das Paläo-Food. Hier wird auch biologisch und mit Rückgriff auf evolutionistische Narrative operiert, um uns eine kohlenhydratarme Ernährung zu verkaufen.
Insofern ist die Frage nach der Unterscheidung von Wissenschaft und persönlicher Überzeugung falsch gestellt. Gerade wenn es um den Menschen geht, ist es immer eine Frage der persönlichen Überzeugung und damit eine politische Frage. Denn man entscheidet sich aus der Fülle an biologischen Erkenntnissen für eine bestimmte Interpretation und eine bestimmte Perspektive. Und wenn man sich für die deterministische Variante mit misogynen Untertönen entscheidet, dann kann man sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen, indem man auf eine übermächtige Natur verweist.
Wepsert: Quantitative Methode ist leicht misszuverstehen und wird häufig verfälschend wiedergegeben. Welche Denkfehler begegnen dir im Diskurs am häufigsten?
Christian Reiß: Das schließt direkt an meinen vorangegangenen Punkt an. Es handelt sich auf der einen Seite um den sogenannten „Confirmation Bias“, also die Tendenz nach Bestätigung der eigenen Überzeugung zu suchen, die jeder von sich kennt. Das kann dann natürlich auch zu Ungenauigkeiten und Übertreibungen führen.
Auf der anderen Seite ist die Hoffnung Teil des Problems, dass die Wahrheit irgendwo in den Zahlen liegt. Die Quantifizierung kaschiert an allen möglichen Stellen die interpretativen Spielräume, die den Wissenschaftler*innen und ihren Leser*innen offen stehen. Und sie verdeckt durch Schlagworte wie Objektivität, Neutralität und Universalität den Umstand, dass wir am Ende die Entscheidungen immer noch selbst treffen.
Biologische, aber auch andere naturwissenschaftliche Erklärweisen werden seit dem 19. Jahrhundert immer wieder dazu genutzt, politische Verantwortung auf die Natur abzuschieben und politische Entscheidungen mit Verweis auf die Tatsachen als „alternativlos“ dazustellen, um einen aktuellen politischen Begriff zu verwenden. Das soll natürlich nicht heißen, dass die entsprechenden Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften keine Verwendung finden sollen. Ganz im Gegenteil. Es geht vielmehr darum, auf ihre angemessene und nutzbringende Funktion im Diskurs hinzuweisen.
Wepsert: Frust und Verzweiflung führen bei Incels zu Frauenhass. Von welchen Aspekten des Feminismus könnten deiner Meinung nach Männer profitieren, die von der erfolglosen Suche nach einer Partnerin enttäuscht sind?
Christian Reiß: Da gibt es sicherlich sehr viele Punkte. Wobei ich diesen Formen von Anwendung und Belehrung eher skeptisch gegenüberstehe. Aber alleine die Einsicht, dass es die beiden eindeutig getrennten Gruppen der Männer und der Frauen nicht gibt, die sich konfliktförmig gegenüberstehen, könnte schon viele Probleme lösen. Denn die Suche nach gruppenspezifischen Verhaltensmustern und deren strategische Manipulation scheint mir wenig erfolgversprechend, wenn man auf der Suche nach einer romantischen Beziehung ist, die auf Liebe und Vertrauen basiert. Gleichzeitig kann man über die gesellschaftlichen Zusammenhänge nachdenken, in denen wir alle leben und hier sehr viel über sich selbst und die Menschen um sich herum lernen.