Zurückgeworfen auf das Sein als Mensch mit Uterus - von Ani Menua
In diesem Text soll es nicht nur um Menschen gehen, die biologisch betrachtet, über die Kondition und Organe verfügen, Menschen auszutragen und zu gebären, zunächst ungeachtet der Tatsache, ob diese Organe funktionsfähig sind und wenn sie das sind, ob sie zu diesem Zweck genutzt werden, sondern vor allem um Menschen, die sich als Frauen betrachten und sich ständig mit gesellschaftlich geprägten Stereotypisierungen auseinandersetzen müssen. Eine dieser tradierten Stereotypisierungen ist, dass Mutterschaft ein unentbehrlicher Teil der Existenz und der Verwirklichung als Frau sei. Ohne die Erfahrung der Mutterschaft soll eine Frau nicht glücklich sein können, das bedeutet, dass eine Frau nur als Mutter die Möglichkeit hat, Erfüllung und Glückseligkeit zu erreichen.
Gleichzeitig steht die intensive körperliche und geistige Erfahrung der Mutterwerdung durch meinen weiblichen Körper als Frau der Idee der völligen sozialen Konstruktion der Geschlechter gegenüber, da sie sich für mich nur in Referenz auf meinen Körper, d. h. meine Vagina, Gebärmutter, Brüste und den rohen Mutterinstinkt, der als Trieb, in der Hervorbringung eines Menschen durch den Körper, geistig schwer kontrollierbar ist, betrachten lässt. Über die körperliche Intensität dieser Erfahrung, die der geistigen, gemäß meiner eigenen Betrachtung, eindeutig vorausgeht, will ich laut nachdenken und schreiben.
Dieser Text ist ein Screenshot meiner Innenwelt, im Prozess der Mutterwerdung, die ich in Notizen, auf Papierfetzten fixiert habe, um die Intensität zu dokumentieren, sie nachhaltig nachvollziehbar und erfahrbar zu machen. Ich stelle immer wieder die Frage, wie sich Mutterschaft noch deuten lässt, angesichts des Umstandes kürzlich selbst Mutter geworden zu sein und inwiefern Mutterschaft in einer transzendentalen Form gedacht werden kann, ohne unmittelbar in den Kontext mit dem Frausein gesetzt zu werden.
Mythos Mutter
Die Frau ist gesellschaftlich dazu verdammt, Mutter werden zu wollen, zudem existieren sehr genaue Vorstellungen darüber, nicht nur tradierte, wie eine Mutter sein soll: Sie muss eine aufopfernde Mutter und Partnerin, Mutter und Freundin, Mutter und Tochter, Mutter und Chefin, Mutter und Kollegin, Mutter und Unternehmerin usw. alles zugleich und auf einmal sein. Frauen, die keine Kinder haben wollen, die ihr Frausein nicht über das Muttersein definieren, die die Glückseligkeit nicht an das Mutterwerden zwangsläufig binden und ihren Körper nicht in den Reproduktionsdienst für die Menschheit stellen wollen, gelten als egoistisch. Auch die kritische Betrachtung des Mutterseins durch eine Mutter trifft vielfach auf den Vorwurf einer angeblichen Unfähigkeit zur bedingungslosen Mutterliebe, die diesen „Kompensationsraum“ für Gedanken und widernatürliche Betrachtungen erst schafft. Das aber ist eine konkrete Anzweiflung der Mündigkeit einer Person, die über ihre Erfahrungen reflektiert, weil sie Mutter ist. Weil sie das aber ist, soll das, was sie sagt, nicht nur sie betreffen, sondern auch ihr Kind, deshalb soll das, was sie sagt, verantwortungslos gegenüber diesem sein. Sobald eine Frau Mutter ist, soll sie nicht mehr nur für sich als gesellschaftliches Subjekt oder Individuum, aus Rücksicht auf ihr Kind, sprechen dürfen. Das ist eine Moralisierung, die Mütter als Menschen und Frauen zum Verstummen hinsichtlich ihrer Erfahrungen bringt und eine angebliche Unmöglichkeit des Reflektierens über das Muttersein als Mutter, im Übrigen auch als Nichtmutter aus unterschiedlichen Gründen konstatiert. Der eine Grund ist, dass eine Mutter sich ohne ihr Kind nicht denken können darf und der andere, dass eine Nichtmutter unfähig ist, erkenntnisbringende Gedanken über das Muttersein zu generieren, solange sie kein eigenes Kind hat.
Dass alle Mütter ihre Kinder bedingungslos lieben, ist eine gesellschaftlich konstituierte Zwangsvorstellung.
Das Recht einer Frau, die sich für das Muttersein entschieden hat, ist das Leben als Mutter nicht nur nach den Bedürfnissen ihres Kindes, sondern vor allem nach ihren eigenen zu gestalten, damit sie in der Lage ist, das eigene Kind, das zunächst von ihrem Körper abhängig ist, zu versorgen oder nach alternativen Versorgungsmöglichkeiten zu suchen, wenn sie ihren Körper nicht zur Verfügung stellen kann oder will. Wie sie sich entscheidet, sagt nichts über die Liebe zu ihrem Kind aus, auch nicht, was die Liebe sein soll. Ist es schon Liebe, wenn eine Mutter das Kind stillt, sauber hält und nicht fallen lässt? Was passiert mit dieser Liebe, wenn das Baby wochenlang schreit oder wenn das Kind kein süßes Baby mehr ist und es sich seiner Mutter nicht fügen will und das in jeder Phase seiner Entwicklung bis zum Erwachsenenalter und darüber hinaus? Dass alle Mütter ihre Kinder bedingungslos lieben, ist eine gesellschaftlich konstituierte Zwangsvorstellung, die mit dem Muttersein einhergeht. Wenn jede Mutter der bedingungslosen Liebe ausschließlich fähig wäre, hätten wir lauter glückliche Menschen auf dieser Welt. Angesichts der Tatsache, dass Mütter vor allem Menschen sind, deren Unzulänglichkeiten und Bedingtheiten sich mit dem Mutterwerden nicht auflösen, ist diese Vorstellung mehr als befremdlich.
Die durch Social Media idealisierten weiß- und pastellfarbenen sowie beige konditionierten Vorstellungen des Mutterseins sind zahlreich und weit weg von der Wirklichkeit als Mutter. Sie geben vor allem emotional wattierte Strukturen vor, in denen sich eine gewordene Mutter vorzufinden hat. Geschieht das nicht, geht es zu Lasten der Mutter und nicht der Gesellschaft, in der sie zur Mutter wurde. Eine Frau muss sich von allen vorhandenen Strukturen und Vorstellungen der Gesellschaft, des Mannes und der Frau von sich als Frau emanzipieren, um als Mutter frei zu existieren und der Frage nachgehen zu können, welche Mutter sie sein kann und will. Eine der bedenklichsten Vorstellungen ist, dass das Mutterwerden dazu führen soll, eine glückliche Frau und Mensch zu sein – von dieser Vorstellung muss sie sich in erster Linie befreien und damit auch von dem äußeren Druck, glücklich sein zu müssen, nur weil sie Mutter wurde. Wenn die Frage nach der Glückseligkeit einen Kompass für das Leben des Menschen darstellt, dann ist das Mutterwerden sicher kein Shortcut dahin – Mutterwerden ist dem Glücklichwerden nicht gleichgesetzt und ist auch keine notwendige Bedingung für ein glücklichere Existenz als Frau, sodass diesbezüglich auch kein biologischer Vorteil gegenüber dem Mann besteht, dem die Gesellschaft die Suche nach geistiger Erfüllung außerhalb der Vaterschaft billigt, während die Frau sich dafür rechtfertigen muss, warum sie sie nicht in der Mutterschaft vermutet oder erfährt.
Die Relevanz der beruflichen Praxis der Frau ist der des Mannes untergeordnet, auch weil sie bei gleicher Arbeit weniger Geld und Ansehen erhält – den nächsten Auftrag oder ihre berufliche sowie geistige Weiterentwicklung soll sie auf „später“ verlegen.
Je weniger emotional sowie finanziell selbst- und eigenständig eine Frau innerhalb unserer Gesellschaft, einer Ehe oder eheähnlichen Beziehung sowohl materiell als auch immateriell situiert ist, desto weniger Einfluss hat sie auf ihr eigenes Leben und desto weniger kann sie ungehindert der Frage nachgehen, ob und welche Mutter sie sein will. Die patriarchale Gesellschaft suggeriert der Frau nicht nur, dass sie ohne die Erfahrung der Mutterschaft ein mangelhaftes Wesen darstellt, sondern überdies einen natürlichen Drang zum Mutterwerden und dadurch auch eine angeblich biologisch bedingte Bereitschaft zur Selbstaufgabe, die sich aus der Mutterschaft speist und die sich in Form von Mutterliebe in den Dienst des Kindes, des Mannes, der Familie und schließlich der Gesellschaft stellt, besitzt. Das ist eine ökonomische Ausbeutung der Frau als soziales Konstrukt, wie die COVID-Pandemie sehr deutlich zeigte. Die Erwartungshaltung und der Ausgangspunkt der Gesellschaft, in der wir leben, ist folgende: Weil Frauen selbstlose Mütter sind, ziehen sie in Extremsituationen für ihre Kinder und Familie gern den Kürzeren und beschweren sich nicht – sie bleiben freiwillig zuhause, kochen und betreuen die Kinder, gleichen das Versagen des Staates aus, während Infrastrukturen, wie KITAS und Schulen, geschlossen bleiben. Und das alles, weil sie ihre Kinder und Familien so sehr lieben und weil liebende Mütter so handeln. Die Relevanz der beruflichen Praxis der Frau ist der des Mannes untergeordnet, auch weil sie bei gleicher Arbeit weniger Geld und Ansehen erhält – den nächsten Auftrag oder ihre berufliche sowie geistige Weiterentwicklung soll sie auf „später“ verlegen – Bücher kann sie, zum Beispiel, lesen, wenn die Kinder schlafen. Hierin zeigt sich die Bevormundung und Entmündigung der Frau als Mutter, die für das Gemeinwohl, zu dem in seiner kleinsten Einheit das Familienwohl gehört, das aufgeben oder verschieben muss, womit sie sich abseits des Muttersein beschäftigt.
Durch die Bevormundung der Frau und die unfreiwillige Folgsamkeit der Frau als Mutter, mangels Ausweichstrukturen, erlangt die patriarchal bestimmte Gesellschaft scheinbare wirtschaftliche Stabilität, Festigkeit und Selbstgenügsamkeit. In der Folge generiert sie für sich eine moralistische Überlegenheit gegenüber der Frau, die sie zur Schau stellt und die sich in ihrer Stereotypisierung zeigt, zum Beispiel, dass jede Frau danach strebt, Mutter zu sein. Die patriarchale Ordnung der Gesellschaft, in der wir leben, entwürdigt die Frau auch durch das Verwehren von Entscheidungshoheiten über ihren Körper. Sie kontrolliert die Frau und ihren Körper strukturell, maßregelt sie durch Gesetze und findet höchste Befriedigung darin, weil ihr das gelingt, wie es sich anhand von zermürbenden Umsetzungsstrukturen von Abtreibungs- und Sterilisierungsbegehren einer Frau beispielhaft feststellen lässt. Eine Frau, die keine Mutter sein will oder es noch nicht ist, wird in der Regel als jemand angesehen, der unfähig ist, sein biologisches Potential vollständig zu realisieren und deshalb im Nichtverwirklichtsein verhaftet bleibt. Die frei getroffene Entscheidung der Frau gegen die fantasierte „vollständige“ Verwirklichung des eigenen Potentials, im Sinne ihrer biologischen Verfasstheit, wird durch die Infragestellung der Freiwilligkeit, unter dem Deckmantel der Skepsis, beäugt und in der Folge als widernatürliches Verhalten angezweifelt und abgelehnt.
Theoretische Bewunderung und praktische Verachtung – MILF, die Mutter als eine Kategorie von Mensch und eine Unterkategorie von Frau.
Die Gesellschaft fragmentiert, zerlegt die Frau und Mutter als Mensch in unterschiedliche Kategorien, was sich vor allem durch den ungehobelten und den verachtenden Sprachgebrauch offenbart: Sie ist Mutter und Künstlerin, Mutter und Professorin, Mutter und Managerin, Mutter und Intendantin, Mutter und Ärztin, Mutter und Erzieherin, Mutter und Pflegerin, Mutter und Dienstleisterin, Mutter und Lehrerin, Mutter und Beamtin, Mutter und Politikerin, Mutter und Redakteurin, Mutter und Journalistin. Sie ist niemals nur Frau, sondern auch „noch keine Mutter“, „bald Mutter“, „schon Mutter“, „nur Mutter“, „beruflich tätige Mutter“, „Rabenmutter“, „Hipster-Mutter“, „überforderte Mutter“, „Transmutter“, „unterforderte Mutter“, „ das Muttersein steht ihr“, „das Muttersein steht ihr nicht“, „Glucke“, „Single Mom“, „getrennte Mutter“, „Alleinerziehende“, „alleinerziehend und auf der Suche“, „verheiratete“, „unverheiratete“, „geschiedene“ und „in Scheidung lebende Mutter“, „feiernde Mutter“, „langweilige Mutti“, „so ne Kopftuchmudder“, „deine MuddA“ und „einer Hure Sohn“, „Koksnutte“, „narzisstische Mutter“, „Votze“, „unfähige Mutter“, „willige Mutter“, „geile Titten“, „schlaffe Titten“, „frustriert und ungefickt“, „Migramama“.
Im praktischen Alltag ist die Gesellschaft abschätzig der Frau gegenüber als Mutter– der weibliche Körper ist nach wie vor Moralisierungs- und Stigmatisierungsgegenstand, Kultobjekt und bekommt in der Funktion des Lebenshervorbringers eine weitere Stigmatisierungsdimension, nämlich die praktische Mutterschaft, hinzu. Mütter werden politisch idealisiert, stilisiert und exponiert; in der Kunst sogar, wie die Marienfigur, sakralisiert. Zwischen dem theoretischen, im Sinne einer Sakralisierung sowie Huldigung, und dem praktischen Umgang mit der Frau als Mutter besteht eine große Diskrepanz. Theoretische Bewunderung und praktische Verachtung – MILF, die Mutter als eine Kategorie von Mensch und eine Unterkategorie von Frau – ihr Körper und der imaginierte weibliche Körper dienen als Projektionsfläche und sind das Zentrum für Auseinandersetzungen mit Sexismus, Diskriminierung, Klassismus, Emanzipation oder Gleichberechtigung, Geschlechterfluidität und Identität. Sein ohne Zeit, Geschlecht und Identität, Transfrau und Identität, Cis-Frau und Identität, Mutter und identitätslos. Die Frau für Reproduktionszwecke gesellschaftlich zu instrumentalisieren und ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft, unabhängig von ihrem Willen Mutter sein zu wollen, zu zementieren, bedeutet das Zurückwerfen der Frau auf das Sein als Mensch mit Uterus.
Dialektik und Ausschluss
Die biologische Mutterschaft ist dialektisch. Die Dialektik der Mutterschaft offenbart sich zum einen in der Gewöhnlichkeit der Natur dieser Erfahrung als eine notwendige Bedingung zum Erhalt der Menschenart und zum anderen zeigt sie sich in ihrer Einzigartigkeit, ohne die Mutterschaft an sich an dieser Stelle, auf der Ebene des Individuums, positiv oder negativ hervorzuheben, sondern sie, d. h. die Einzigartigkeit, zunächst bloß als Phänomen anzusehen: Der Prozess der Geburt ist reiner Schmerz. Der körperliche Schmerz, der den Geist einkesselt und zurückdrängt, das Physische in den Vordergrund drängt, den freien Willen im absoluten Moment der Geburt unwirksam macht und jedes Handeln auf den reinen Instinkt dezimiert und befestigt, dieser körperliche Schmerz, der wie ein Feuerball den weiblichen Körper von Innen zerreißt, und wogegen sie durch den Einsatz des Willens nichts tun kann, lässt sich in seiner Gänze mit keiner uns zur Verfügung stehenden Sprachgewalt beschreiben. Für die detaillierte Wiedergabe zur Erfassung dieses Schmerzes existiert keine Sprache, geschuldet seiner Unvergleichbarkeit und der Halbwertszeit im Erinnerungsappart der Gebärenden. Direkt nach der Geburt beginnt die genaue Erinnerung an den Prozess der Geburt sofort, auch wenn langsam, zu verblassen.
Mutterschaft oder der Akt der Hervorbringung eines Menschen auf die Welt kann als schöpferischer und damit als künstlerischer Akt angesehen werden.
Die biologische Mutterschaft ist auch ausschließend, wer diesen Schmerz nicht selbst empfunden hat, wird ihn sich niemals vorstellen können. Dieses ausschließende Moment führt zu dem Fehlschluss, dass Frauen, die keine Mütter sind, nicht in der Lage sein sollen, Erkenntnisreiches über Mutterschaft zu sagen. Auch in der Mutterschaft und nicht nur in Kunst, Wissenschaft oder Handwerk usw. realisiert sich der schöpferische Geist des Menschen als Frau und Mutter. Das bedeutet die Mutter ist nicht nur für die körperliche Versorgung des neugeborenen Menschen verantwortlich, sondern auch für dessen geistige Entwicklung. Der neugeborene Mensch ist nicht nur Biomasse, die sich selbst noch nicht versorgen kann, sondern auch eine geistige Masse, die alles werden kann. Damit diese geistige Masse gedeiht, muss die Mutter das Kind wesensgerecht Mensch werden lassen, ohne es zu manipulieren oder geltenden normativen Vorstellungen der Gesellschaft anzugleichen. Daher kann Mutterschaft oder der Akt der Hervorbringung eines Menschen auf die Welt als schöpferischer und damit als künstlerischer Akt angesehen werden. Mütter sind, im Sinne der Hervorbringung eines Menschen, den ihr Geist und Körper formen, demnach die ersten Künstlerinnen der Menschheitsgeschichte. Daraus ergibt sich der folgende Schluss:
1. Die Erschaffung eines Kunstwerks ist ein schöpferischer Moment.
2. Die Erschaffung eines Kindes ist ein schöpferischer Moment.
3. Mütter sind Künstlerinnen schlechthin.
Mutterschaft und Transzendenz
Mütter tragen Verantwortung – der Mensch kommt zwar als Mensch auf die Welt, doch muss er auch erst zum Menschen werden. Der Prozess der Menschwerdung wird in den ersten Jahren vorrangig von Müttern begleitet, und zwar am eigenen Beispiel, weil das Kind in der Regel gerade am Anfang auf seine Mutter angewiesen ist. In dieser Zeit lernt das Kind sie nicht nur als die eigene Mutter, sondern auch als einen Menschen im Zusammenhang mit seiner Umgebung kennen. Dafür ist es notwendig, dass das Kind sieht, womit sich seine Mutter beschäftigt, was sie als Person ausmacht, wie sie sich gegenüber der Welt, in der sie sich vorfindet, positioniert, mit anderen Menschen agiert und ihre Beziehungen, nicht nur zum Vater, gestaltet. Es ist unerlässlich, dass Mütter trotz Mutterschaft auch in den ersten Jahren, das machen, was sie für ihre persönliche Entwicklung als wichtig erachten. Innerhalb der Mutterschaft besteht keine Notwendigkeit auf das eigene Leben als Individuum zu verzichten, wenn Mütter das nicht wollen und es bedarf der Unterstützung eines sozialen Netzwerks, um das für sich in Anspruch nehmen zu können. Im Umkehrschluss bedeutet das aber nicht, dass Väter weniger Verantwortung gegenüber ihren Kindern haben, sondern lediglich, dass die Mutterschaft gerade in der ersten Zeit das dominantere Prinzip gegenüber der Vaterschaft ist. Diese Dominanz manifestiert sich über die Erfahrung der Schwangerschaft, während der das Verhalten der Mutter zu ihrem eigenen Körper unmittelbare Folgen auf die Entwicklung des Kindes hat. Die Care-Arbeit, die aus Gründen der Geschlechterungleichheit überwiegend Mütter leisten, verdrängt die qualitative Zeit für sich selbst und für das Kind. Sie muss deshalb aufgeteilt werden und zum gleichen Teil auch von Vätern geleistet werden.
Auf der geistigen Ebene kann jeder Mensch Mutterschaft erfahren.
Die physische Mutterwerdung ist der erschütterndste Moment, der sich in Form einer Zäsur manifestiert. Sie vollzieht sich durch das Bewusstsein über eine unumkehrbare Verantwortung als Mutter, deren Zurückweisung unheilvoll ist und die Erkenntnis, dass Mutterschaft über die Fähigkeit, einen Menschen auszubrüten und zu gebären, hinausgehen muss.Eine Frau muss nicht erst Mutter werden, um zu erkennen, was es bedeutet Verantwortung zu tragen und zu erschaffen. Durch die in ihr vorhandene Eigenschaft zur Mutterwerdung ist sie bereits Mutter, sobald sie ihre eigene Potenz zur Mutterschaft begreift. Hierin liegt der transzendentale Charakter der Mutterschaft, durch den es deutlich wird, dass auf der geistigen Ebene jeder Mensch Mutterschaft erfahren kann. In dem Menschen wirkt auch dann das Prinzip der Mutterschaft, wenn er etwas durch einen geistigen sowie körperlichen Krafthöchstaufwand hervorbringt, über sich hinauswächst und das Hervorgebrachte in die Gesellschaft entlässt. Über dieses Prinzip der Mutterschaft stellt sich nicht nur das Gefühl für eine moralische Verantwortung gegenüber dem Hervorgebrachten, wie sie eine Mutter gegenüber ihrem Kind empfindet, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, wie sie eine Mutter gegenüber ihrer Familie empfindet. Jeder Mensch ist Kind. Jeder Mensch kann auch Mutter sein – das Prinzip der Mutterschaft wirkt dem Prinzip der in unserer Gesellschaft dominierenden Konkurrenz entgegen.
Mit diesem Text will ich Frauen empowern, keine Angst zu haben durch die Gesellschaft einbetonierte Ansichten und Perspektiven über Mutterschaft, mit denen sie nicht einverstanden sind, zu hinterfragen und sie abzulehnen. Zugleich fordere ich auf, sich mit Frauen zu solidarisieren, wenn sie sich gegen eine biologische Mutterschaft entscheiden, denn einzig die Frau hat die Entscheidungshoheit über ihren Körper. Jede Form der Überredung oder Infragestellung dieser Entscheidungshoheit ist verachtend und bedeutet einen Eingriff in ihre Freiheit als Mensch. Auch will ich Mütter auffordern die Mutterschaft als Kraft zu begreifen, mit der sie sich von etablierten Vorstellungen und Stigmata befreien können. Mutterschaft ist keine Knechtschaft. Knechte bringen keine Freigeister hervor.