„Den Blick aufs Kleine, Private, Persönliche richten“  - Ein Gespräch mit Christian Dittloff über Autofiktion und Männlichkeit

„Den Blick aufs Kleine, Private, Persönliche richten“ - Ein Gespräch mit Christian Dittloff über Autofiktion und Männlichkeit

Dass Männlichkeit und ihre Rolle im Patriarchat ein wichtiges Thema für den Feminismus ist, darüber sind sich die meisten einig. Doch wenn es um Männlichkeit geht, werden viele Feminist*innen häufig erst einmal misstrauisch. Zu oft haben wir die Erfahrung gemacht, dass vor allem weiße Hetero-Cis-Männer sich nach außen feministisch geben, mit Zitaten um sich werfen und sich dann trotzdem sexistisch verhalten und ihre eigenen Privilegien weiter unreflektiert nutzen. Beispiel: ein Typ, der in seinem Dating-Profil einen Artikel über Mansplaining verlinkt und beim Date dann nichts anderes tut als zu mansplainen. Eine witzige Reihe dazu gibt es zum Beispiel bei littlefeministblog:

@littlefeministblog Instapost

Neben diesen Schöner-Schein-Feministen gibt es in unserem Umfeld aber auch Cis-Männer, die versuchen, es anders zu machen und ein echtes Interesse haben, patriarchale Strukturen zu durchbrechen. Die sich nicht nur feministisch nennen, sondern tiefer schauen, die wirklich bereit sind, sich zu ändern. Das ist leichter gesagt, als getan. Sich grundlegend zu ändern ist natürlich auch für FLINTA* nicht leicht, deshalb ist es wichtig, dass Menschen über ihre eigenen Prozesse reflektieren und sich darüber austauschen. Wir stellen euch einen Autor vor, der sich genau dies in seinem neuen Buch Prägung – Nachdenken über Männlichkeit vornimmt.

Christian Dittloff, in Berlin lebender Autor, hat bereits in seinem letzten Buch begonnen, sich mit eigenen Lebenserfahrungen literarisch auseinanderzusetzen: In Niemehrzeit geht es um den kurz aufeinanderfolgenden Tod seiner Eltern und seinen Umgang damit. Sein neues Buch knüpft an dieses persönliche, autofiktionale Erzählen an. Sein Fokus wechselt nun auf die eigene männliche Sozialisation, seine Prägung. Wir von Wepsert freuen uns über ein Buch, das ganz genau hinschaut und das Selbst nicht außen vor behält, sondern im Gegenteil: das Selbst als Ausgangspunkt nimmt.

Im folgenden Gespräch verwenden wir die Begriffe “männlich” und “Mann” im Bezug auf eine cis-männliche Sozialisierung und Prägung innerhalb eines patriarchalen Systems, das sich auf binäre Geschlechter beruft.

Das Gespräch führte Alisha Gamisch.

Lieber Christian, in der Einleitung deines neuen Buches schreibst du, dass deine Agentin zunächst skeptisch war: „Ganz unverblümt fragte sie mich, warum es gerade diese Stimme eines Mannes brauche?“ Wie kamst du auf das Thema und was hat dich dazu bewogen, es entgegen der ersten Reaktionen fertig zu schreiben?

In kurz: Was hat mich geprägt, welche Gewalt steckt in mir? – Es hat mich einfach nicht losgelassen. Doch um etwas ausführlicher zu werden: Die Frage, was Männer und Jungs tun müssen, um feministische Allies zu sein, beschäftigt mich schon seitdem ich ein Teenager bin. Einen direkten Auslöser gab es nicht, eher eine Verdichtung des wiederkehrenden Gefühls: So geht es nicht. Was ich als normalisiertes männliches Verhalten um mich erlebe, ist zutiefst sexistisch geprägt. Mich selbst literarisch auf diese Art zu reflektieren wurde ausgelöst durch den Tod meiner Eltern, die beide vor fünf Jahren gestorben sind und die vorbildhafte Lektüre von autofiktional arbeitenden Autor*innen wie Annie Ernaux, Joan Didion, Didier Eribon, Sheila Heti und Edouard Louis. Nachdem 2021 Niemehrzeit erschien, ist Prägung nun wieder eine autofiktionale Selbsterkundung, in der ich versuche, meine gesellschaftlich, institutionell und durch Popkultur vermittelte sexistische Prägung sichtbar zu machen, um ihr entgegenzuwirken.

„Thematisch ist dieses Buch hoffentlich auch interessant für alle, die feministisch engagiert sind und die sich insbesondere fragen, was Männer für den Feminismus tun können sowie was der Feminismus für Männer tun kann.“

Was war dir wichtig beim Schreiben des Buches?

Beim Schreiben war es mir wichtig, auf dem schmalen Grad zwischen Entlarvung von sexistischer, patriarchaler Prägung und ihrer Reproduktion nicht auf die Seite der Reproduktion zu kippen. Um sicherzustellen, dass mein Buch keine einfache Heldenreise eines „Ich“ wird, braucht es Kontextualisierung und Reflexion. Dadurch kommt es in Prägung zu dieser fließenden Bewegung einer anekdotischen Erinnerung, die durch einen wissenden Erzähler kommentiert und eingeordnet wird, bevor der Text in eine Betrachtung des Schreibens selbst mündet.

Buchcover Prägung - Nachdenken über Männlichkeit, Berlin Verlag

Wen möchtest du erreichen?

Ich hatte nicht unbedingt eine Zielgruppe im Sinn, aber ich glaube, dass dieses Buch, das zuallererst ein literarischer Text ist, sich an alle richtet, die sich für autobiographisch arbeitende Schreibverfahren interessieren und wie man mit literarischen Mitteln eine spezielle Art der Psychoanalyse betreiben kann. Thematisch ist dieses Buch hoffentlich auch interessant für alle, die feministisch engagiert sind und die sich insbesondere fragen, was Männer für den Feminismus tun können sowie was der Feminismus für Männer tun kann.

Kannst du das ein bisschen ausführen?

Ich bin davon überzeugt, dass Männer sich ihre sexistische Prägung eingestehen müssen. Das heißt nicht ein paar feministische Schlagworte zu wiederholen, sondern eine langfristige und schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, den Glaubenssätzen, Wünschen und Erwartungen ans Leben. Auch wenn Männer strukturell im Patriarchat profitieren, haben sie unter der Enge gewaltvoller Vorbilder zu leiden. Sie leben in einer bedrohlichen Echokammer, die Gewalt gegen andere Menschen und gegen sich selbst wahrscheinlicher macht. Der Feminismus kann auch Männer von den Gender-Schablonen befreien, da intersektionaler Feminismus ein besseres Leben für alle Menschen anstrebt.

„Die größte Herausforderung war die Scham.“

Hat dich das Schreiben des Buches auch in deinen Überzeugungen und Annahmen über Männlichkeit verändert?

Das Schreiben hat manche Überzeugungen diversifiziert und andere verhärtet. Ja, ich glaube, dass Jungs in unserer Gesellschaft durch eine Art patriarchale Fabrik gehen. Sicher gibt es Unterschiede zwischen meinem Aufwachsen in einem ländlich-kleinstädtischen, nicht akademischen, kleinbürgerlichen Mittelschichts-Milieu der 80er und 90er Jahre und dem Aufwachsen eines Kindes in vielfältig prekären, gewaltvollen Verhältnissen oder aber dem Aufwachsen eines Kindes heute mit progressiven, wohlhabenden und emotional verfügbaren Akademiker-Eltern. Nichtsdestotrotz eint die Kindheit eines Jungen auch über Verhältnisse und Dekaden hinweg die Tendenz zur Gewalt und Gefühlsarmut, zur Konkurrenz und zum Kräftemessen. Die US-Amerikanische Sozialwissenschaftlerin Peggy Orenstein hat mit Boys & Sex ein beeindruckendes Buch dazu verfasst. Darin beschäftigt sie sich sehr konkret mit den Glaubenssätzen von Schülern und wie sehr sie noch immer von patriarchalem Denken durchzogen sind.

Auf welche Herausforderungen bist du beim Schreiben gestoßen und (wie) konntest du mit ihnen umgehen? Gab es persönliche Hemmschwellen/ Widerstände?

Die größte Herausforderung war die Scham. Mein kindliches und jugendliches Ich mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Verfehlungen auf diese Weise literarisch zu exponieren. Doch die Scham ließ sich produktiv machen, denn durch die wiederholte Konfrontation mit ihr, wuchs die Kraft und die Notwendigkeit zum Eingeständnis. Die Scham stärkte in mir das, was bell hooks als „Wille zur Veränderung“ bezeichnet. Denn diesen Willen brauchen Männer, um feministische Allies [Allies von engl. ally, Verbündete, Anm. d. Redaktion] zu werden.


In deinem Buch kommen verschiedene toxische „Prototypen“ von Männern vor, die allerdings reale Vorbilder haben. Was können diese literarischen Figuren uns über patriarchale Mechanismen unter Männern verraten?

Es ist wichtig, Sexismus mit Zahlen und Fakten greifbar zu machen, um übergeordnet gesellschaftlichen Handlungsbedarf zu erkennen. Doch es ist ebenso wichtig, das statistische Moment in ein persönliches Moment zu überführen. Das war zum Beispiel wichtige Errungenschaften in der #metoo Bewegung: Gewalt zu benennen und ins Reden zu kommen über konkrete Erfahrungen und einen Raum zu schaffen, in denen Einzelstimmen gehört werden. Von meinen literarisierten toxischen Prototypen kann man lernen, den Blick ins Kleine, Private, unmittelbar Persönliche zu richten: Der Satz „Sexismus und sexistische Ideologie in der Schule durch Lehrer ist ein Problem“ ist richtig, doch die vielen kleinen Erfahrungen, Berichte, die ich mit Freund*innen gesammelt und in Prägung literarisiert habe, machen das Problem erst fühlbar und lassen sich mit dem eigenen Leben verbinden. Sie dienen somit dem oben beschriebenen Notwendigkeitsgefühl selbst etwas verändern zu wollen. Literatur kann so ein Gefühl erzeugen.

„Bin ich die richtige Person, um über dieses oder jenes Thema zu sprechen, sollte ich diesen Platz einnehmen? Das ist eine Ambivalenz, die man auf Bühnen aushalten muss und gegebenenfalls auch eine Kritik, die berechtigt ist.“

Dein Buch spielt mit dem Bild des Steinbruchs als Metapher und Strukturelement. Wie kam es dazu?

Ich wollte von meiner Kindheit und Jugend erzählen, aber keine gefühlige Geschichte mit klassischem Handlungsbogen erzählen, in der ich der „Gute“ und der „Held“ bin und eine narrativ vorgezeichnete Entwicklung vollziehe. Und ich wollte auch nicht nostalgisch und anekdotisch von mir als standesamtlich verbürgtem Ich erzählen.

Während des Schreibens kam ich auf eine Metapher für das Erinnern: ich steige beim Erinnern in meinen inneren Steinbruch herab und hole Erinnerungen in Form von Steinkugeln hervor, die ich aufbreche und dann betrachte. Da ich als Kind ein etwas nerdiger kleiner Sammler von Mineralien und Gesteinen war, kannte ich solche Steinkugeln, die man aufbricht und dann ist da Amethyst drin, weil ich davon einige zu Hause hatte. Dann dachte ich: Hmm, außen Stein, innen Funkeln, das ist doch irgendwie ein griffiges Bild für dieses Klischee von der harten Schale und dem weichen Kern. Dann habe ich auch bemerkt, dass das Wort „Steinbruch“ eine andere etwas nerdige Eigenschaft von mir anspricht, nämlich ständig an Buchstaben zu drehen und Anagramme zu suchen. Mir fiel auf, dass im Wort Steinbruch andere Worte stecken, wenn man in Leserichtung einige Buchstaben hier und da rausnimmt. In Steinbruch steckt zum Beispiel „Stein“, klar, aber auch: „Einbruch“, „Teich“, „Stich“, „Tuch“, „Buch“ und einige mehr. Diese Worte haben dann die Überschriften meines Ordnungsprinzips ergeben. Es waren Assoziationsworte, zu denen ich dann meine Erinnerungen gruppiert und analysiert habe, die zum Beispiel an einem Teich passiert sind und dann aber auch den Teich als Bild untersuche: Wofür steht er in der Traumdeutung oder welche Mythen spielen an einem Teich und so weiter. So wird die durch das Ordnungsprinzip provozierte Erinnerung zufällig und nicht für einen Erzählzweck gedacht. Das klingt vielleicht etwas kompliziert, doch dahinter steckt eine einfache These: Durch das zufällige Herausgreifen von Erinnerungen kann ich die Allgegenwärtigkeit der patriarchalen Prägung hervorheben.

Christian Dittloff (c) Rebecca Kraemer

Besteht beim autofiktionalen Schreiben nicht auch die Gefahr, wieder in einen männlichen Egozentrismus zu verfallen?

Na klar, und ich glaube, dass diese Gefahr ohnehin in jedem künstlerischen Beruf steckt und auch in vielen aktivistischen Positionen. „Bin ich die richtige Person, um über dieses oder jenes Thema zu sprechen, sollte ich diesen Platz einnehmen? Das ist eine Ambivalenz, die man auf Bühnen aushalten muss und gegebenenfalls auch eine Kritik, die berechtigt ist. Speziell für den männlichen Egozentrismus geht es darum, nicht zu jammern, anderen Stimmen zuzuhören, sie miteinzubeziehen. Doch kann ein Buch zuhören? Mein Weg in diesem Buch: In meinem Schreiben versuche ich das Ringen mit dem eigenen Egozentrismus zu zeigen und selbst zu hinterfragen, woher die Lust am Raumeinnehmen kommt.


Ich finde ja auch toll daran, dass es eine risikoreiche, sich verletzlich machende Position ist, in die du dich da begibst. Im Gegensatz dazu ist es leichter, theoretisch über Sexismus und strukturelle Diskriminierung zu sprechen, ohne selbst darin vorzukommen. Deshalb finde ich es einen sehr spannenden und durchaus mutigen Weg, den du da gehst.

Eine besonders berührende Figur finde ich den Freund S, der im Kindergarten dein Unterstützer und Beschützer wird. Was ist dran am Klischee der Männerfreundschaft, die entweder machohaft über allem steht, nach dem Motto „Bros before Hoes“ oder total oberflächlich ist und sich nur über Fußball, Zocken und schlüpfrige Witze auszeichnet?

S war wichtig für mich, weil er mich vor den bereits im Kindergarten vorherrschenden Prinzipien von Hierarchie, Machtkampf und Konkurrenz ein bisschen bewahrt hat. Doch das hat natürlich uns in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis gebracht, weil ich stets seine Gunst brauchte, um sorglos zu existieren.

Ich pflege heute wenige explizite Männerfreundschaften und bin froh und dankbar, dass viele der Männer, mit denen ich mich umgebe, progressiv, feministisch oder ganz einfach freundlich und gerecht sind. Sollte ich heiraten und überraschender Weise einen „Junggesellenabschied“ machen, wären ohnehin sicher nicht nur Männer dabei. Ultramaskuline Milieus wie den Sportverein habe ich immer schon gemieden oder mich darin unwohl gefühlt. Wahrscheinlich auch, weil ich die geforderten Anforderungen nicht mitbrachte. Ich würde behaupten, dass ich mit den meisten Freunden immer auch reden konnte und mich emotional austauschen, wenn auch vielleicht nicht ganz so gut wie mit Freundinnen. Und doch gab es männliche Whatsapp-Gruppen mit „locker room talk“ von alten Freunden. Diese Gruppen habe ich mittlerweile konkret oder auf Whatsapp verlassen und seit einigen Jahren würde ich mir auch zutrauen, Freunden, die sich sexistisch äußern, zu widersprechen. Doch ich nehme mich da auf keinen Fall aus der Kritik. Auch ich habe mich über viele Jahre sexistisch geäußert. Meine Äußerungen gaben zum Teil Verinnerlichungen wieder. Oft spiegeln die Äußerungen die Zeit wider und nicht nur den Charakter.

„Dieser Wille zur Veränderung sollte aber nicht beim eigenen Ich halt machen. Männer müssen lernen, Sexismus unter Männern zum Thema machen und anzusprechen, wenn sie Sexismus beobachten.“

Hier sprichst du auch etwas an, was in deinem Buch bezeichnend ist: Du arbeitest auf der einen Seite sehr ehrlich und genau eigene Unsicherheiten und den Leidensdruck als Mann heraus, Männlichkeitsidealen zu entsprechen. Auf der anderen Seite scheust du auch nicht davor, eigene toxische Prägungen aufzudecken. Kannst du uns ein paar Beispiele aus dem Buch nennen, die für dich besonders wichtig waren?

Mir ist durch das Schreiben an „Prägung“ etwas bewusst geworden: Nämlich, dass der Beschützerfreund ein sich wiederholender Typus in meiner Biografie ist. Ich war als Kind sehr schüchtern und relativ klein für mein Alter. In der Grundschule wurde ich viel gehänselt. Der Beschützerfreund hat mir geholfen. Doch später wurde dieser meistens kräftigere und selbstsichere Freund zu einer guten Reibungsfläche. Während er männlichen Klischees (z.B. Muskeln, Sexuelle Promiskuität, Prügeln, Fußball, Grölen, Grillen) stärker als ich entsprach, habe ich ihn als Hintergrund genutzt, um mich als eine andere Art Mann von ihm zu unterscheiden. Ich brauchte ihn, um meine gefühlvolle, bedachte und durchgeistigte Art zu unterstreichen. Das ist eine der schmerzhaften Erkenntnisse, die ich durch das textgewordene Material hatte: Ich profitiere durch patriarchale Gebärden, ja sogar von der Gewalt anderer Männer, indem ich mich als anderer Mann zeige. Und Profit kann zum Beispiel bedeuten, dass ich in einer Phase meines Lebens sexuelle Vorteile hatte oder aber heute in einem fortschrittlichen Diskurs über Feminismus als Hetero-Cis-Mann sprechen kann und letzten Endes finanzielle und ideelle Vorteile dadurch erhalte.

Was, denkst du, braucht es, damit mehr Männer lernen, gute Allies zu sein und den feministischen Kampf gegen das Patriarchat zu unterstützen?

Ich glaube, Männer können beginnen, gute Allies zu sein, indem sie sich ihre patriarchale Prägung eingestehen können. Dazu gehört, dass sie sich überhaupt ins Verhältnis zu anderen Geschlechtern setzen können. Auf diese Weise können sie ihre eigenen Beschädigungen beschreiben lernen, die zum Beispiel durch toxische Männlichkeitsbilder entstehen, da sie Männer in gewaltvolle Milieus treiben oder ihnen den Kontakt mit ihren Gefühlen verbieten (Stichwort „boys don’t cry“). Doch vor allem können sie so vielleicht ihre strukturellen Privilegien anerkennen und verstehen, dass in unserer Gesellschaft Gewalt und im Grunde alle großen Krisen der Gegenwart durch toxische Männlichkeitsbilder entstehen: von Kriegen über körperliche Gewalt bis zur Klimakrise. Dieser Punkt ist von großer Wichtigkeit, da einige Männer, die sich zum ersten Mal mit Männlichkeit beschäftigen, im Opferdiskurs landen. Und von da ist es nur ein kurzer Weg zum Männerrechtler.

Teil einer ehrlichen Selbstbetrachtung kann beinhalten, sich seinen eigenen zurückliegenden Verfehlungen zu stellen, um aus ihnen einen Willen zur Veränderung wachzurufen, wie ihn bell hooks in The Will to Change – Über Männer, Männlichkeit und Liebe formuliert. Dieser Wille zur Veränderung sollte aber nicht beim eigenen Ich halt machen. Männer müssen lernen, Sexismus unter Männern zum Thema machen und anzusprechen, wenn sie Sexismus beobachten. Der Widerspruch gegenüber diskriminierendem Verhalten muss normalisiert werden, um ein besseres Klima für alle zu schaffen.

Und zuletzt, du hast zwar schon ein paar genannt, aber hast du noch weitere Lese-, Schau- oder Hörtipps für unsere Leser*innen, die sich mit dem Thema weiter auseinandersetzen wollen?

Zu lesen, zu schauen und (zu) zu hören ist unglaublich wichtig. Es führt eine Linie von Figuren der Literatur und Popkultur bis in den eigenen Charakter. Bei Annie Ernaux heißt es: Diese Figuren „haben ihre Geschichte in meine getragen“. Ich beschränke mich hier auf Literatur, weil ich mich darüber vor allem bilde.

Zum Thema Literarische Selbstreflektion empfehle ich die Bücher von Annie Ernaux (Die Jahre, Erinnerungen eines Mädchens), Didier Eribon (Rückkehr nach Reims), Edourd Louis (Das Ende von Eddy, Anleitung ein anderer zu werden, Wer hat meinen Vater umgebracht) Carolin Emcke (Wie wir begehren) Daniela Dröscher (Zeige deine Klasse) oder Lea Schneider (Scham).

Zum Thema Männlichkeit: Boykott Magazin, bell hooks – The Will to ChangeMänner, Männlichkeit und Liebe, JJ Bola – Sei kein Mann, Susanne Kaiser – Politische Männlichkeit, Katja Lewina – Bock (Über Männer und Sex) Sie hat Bock, Peggy Orenstein – Boys & Sex, Laurie Penny – Sexuelle Revolution, Margarete Stokowski – Wie können Männer Feministen sein?, Jack Urwin – Boys don’t Cry


Vielen Dank für das Gespräch :)

Christian Dittloff, geboren 1983 in Hamburg, studierte Germanistik und Anglistik in Hamburg sowie Literarisches Schreiben in Hildesheim. Vor der Veröffentlichung seines Debütromans Das Weiße Schloss 2018 arbeitete er in einer Psychiatrie, als Kulturjournalist sowie als Experte für Kulturmarketing. Er ist Mitglied von Literatur für das, was passiert – ein Kollektiv von Schriftsteller*innen, die mit ihrem Schreiben Menschen auf der Flucht finanziell unterstützen. Derzeit beschäftigt sich Christian Dittloff insbesondere mit autofiktionalen Erzählformaten und den Themenkomplexen Kritische Männlichkeit und Trauer. Sein autobiographischer Roman Niemehrzeit – Das Jahr des Abschieds von meinen Eltern erschien 2021. Am 23. Februar 2023 erschien sein drittes Buch Prägung – Nachdenken über Männlichkeit.

Christian Dittloff (c) Rebecca Kraemer

Zurückgeworfen auf das Sein als Mensch mit Uterus - von Ani Menua

Zurückgeworfen auf das Sein als Mensch mit Uterus - von Ani Menua

Like Water - Lesung in Berlin

Like Water - Lesung in Berlin