Wepsert Lesetipps: Lea Schneider - Made in China

Wepsert Lesetipps: Lea Schneider - Made in China

In Zeiten, in denen China fast ausschließlich als Ursprungsort von Covid-19 in den Medien auftaucht, ist dieser Band von ungeheurer Wichtigkeit.

Für Personen, die sich bislang so wenig mit China auseinandergesetzt haben wie ich, also ihr*sein Wissen hauptsächlich aus Nachrichten und Bildern aus Literatur, Film und Kunst mit europäischem Blick zusammengesammelt haben, für diese Personen wird Lea Schneiders neuer Gedichtband ihr Bild von China wenn nicht komplett herumdrehen, dann auf jeden Fall erweitern. In Zeiten, in denen China fast ausschließlich als Ursprungsort von Covid-19 in den Medien auftaucht und in denen anti-asiatischer Rassismus wieder offen ausgelebt wird, ist dieser Band von ungeheurer Wichtigkeit.

Die Gefahr der Exotisierung ist groß, Lea Schneider hat aber tolle Mittel gefunden dieser Gefahr entgegenzuwirken.

Bei Texten über ein Land, eine Nationalkultur, der der*die Autor*in nicht selbst angehört, insbesondere derer, außerhalb des globalen Nordens, ist die Gefahr der kolonialen Reproduktion und der Exotisierung groß. Die Autorin dieses Bandes hat keine chinesischen Wurzeln, sie hat ein Interesse. Und sie hat die Mittel gefunden, wie es gelingen kann, eben dieser Gefahr beim Schreiben entgegenzuwirken. Nicht sie zu umschiffen, sondern sie auf die Gabel zu spießen, ganz genau anzugucken und dann an den Tellerrand zu legen. Und dabei eine wunderbare Sprache zu finden, die genußvoll mit ihrem Thema umgeht.

Lea Schneider hat unter anderem Sinologie studiert: die Wissenschaft von der chinesischen Sprache und Kultur(en). Sie hat viel Zeit in China verbracht und was man ihrem Band als erstes anmerkt, ist eine große Neugier für dieses riesige Land. Neben ihrer Tätigkeit als Lyrikerin übersetzt sie viel chinesische Lyrik ins Deutsche. Auch diese Erfahrung merkt man ihrem Band an: worte, die wichtig sind. worte, die nützlich sind. wie spreche ich von den worten, die meine sprache nicht spricht.

Kein einfaches Buch, aber ein lustvoll-komplexes

Ich habe ein bisschen gebraucht um mich dem Erzähltempo ihrer (O-Ton Lea Schneider:) Essay-Gedichte anzupassen, den vielen chinesischen Worten, den geschichtlichen Einwürfen und Zitaten. Der leichte, teils witzige und abwechslungsreiche lyrische Ton fing mich aber schnell auf. Auf eine Art ist es dann doch ein Reisetagebuch: Wir schlendern mit dem lyrischen Ich durch chinesische Städte, besuchen Menschen in diesen Städten und hören uns an, was sie zu sagen haben. Und da sind sehr poetische, politische, manchmal ungewollt oder gewollt weise, meistens humorvolle Dinge dabei, zum Beispiel:

dichterinnen, sagt k. sind in china immer politisch, ganz egal was sie schreiben, die frage ist nur, wie sehr sich wer in der regierung gerade daran erinnert.

Und das ist auch eine Lösung der Autorin mit der oben genannten Gefahr umzugehen: sie lässt viele viele Menschen in ihrem Band zu Wort kommen: Freund*innen, denen sie in China begegnet, chinesische Philosoph*innen, Politiker*innen und Literat*innen und andere Autor*innen. Ihre Texte sind vielstimmig und das lyrische Ich nicht urteilend oder mit einer „ich-weiß-es-besser“-Haltung, sondern im Gegenteil, es lernt, es ist bescheiden, lässt sich Dinge erklären, von denen es vorher nicht wußte, weil es neu ist in diesem Land:

Anregungen zum Nachlesen und Erfahren

Den Satz ich habe das nicht gewußt, wiederholt das lyrische Ich immer wieder. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Meinung hat, immer wieder kommt die selbstbewusst hervor. Aber sie ist eben nicht der Fokus. Der Fokus ist die Beobachtung, die Reflexion, das aktive Zuhören. Der Autorin gelingt es dadurch, uns ein vielschichtiges Bild der unterschiedlichen Menschen zu schaffen, denen sie in China begegnet ist. Ergänzend dazu finden wir viel geschichtlichen Kontext, die das eurozentristische Geschichtsbild herausfordern und bestimmte politische Geschehnisse in eine historische Realität einbetten.

Insbesondere die Zitate und Erzählungen über chinesische Feminist*innen fand ich sehr spannend:

vielleicht erzählst du von hé-yin zhèn, vom feministischen manifest, das sie 1907 veröffentlicht […], von den masturbationsszenen in ding língs romanen, […] vom chinesischen anarcho-feminismus in den zwanzigern […].

oder

in chéngdu denke ich an zhou zuòrén, lu xuns bruder, der unter weiblichem pseudonym publizierte, weil er sich als feminist verstand.

So vieles, das ich nicht wusste und das sich nachlesen lässt. Das ist eine tolle Eigenschaft dieses Buches: die vielen Ideen weiterzulesen und nachzuforschen, über Dinge, die mir sonst wohl nie begegnet wären.

Fazit: Ideales Buch für Lyrik-Liebhaber*innen und China-Interessierte in Corona-Zeiten.

Lea Schneider: Made in China. Verlagshaus Berlin, 2020

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