Was brauchst du? Vom Reden über sexuelle Belästigung.
Teil I
In dem ich unter Spannung wachse.
Wir kennen uns nicht und ich esse von deinem Pappteller und an genau diesem Sommerabend auf genau dieser Stufe ist das genug, dass wir uns kurz darauf Hände in Nacken legen und Finger unter T-Shirt-Ränder schieben.
Die Aufregung, von einem fremden Jungen wahrgenommen zu werden!
In Strasbourg auf Klassenfahrt taten wir so, als würden wir nur englisch sprechen. Die Jungshorde, die mit uns in der Jugendherberge war, glaubte uns und wir tasteten uns aneinander heran, über mehrere Tage hinweg – wir kichernden Mädchen mussten uns zusammenreißen, wenn die Buben über uns sprachen und dachten, wir verstehen kein Wort. Vor der Auflösung, die wütende Folgen hatte, gab es erste Küsse in Hochbetten.
Ich habe mit 16 an einem großen Theater hospitiert, und dabei unter anderem die Garderoben für die Proben hergerichtet. Und natürlich (natürlich?) hat ein 30-jähriger Schauspieler die Gelegenheit ergriffen, mit einem Mädchen (mit Zahnspange!) die Zeit alleine in einem kleinen Raum zu nutzen. Nur ein bisschen knutschen und ein bisschen reiben, und ich war wochenlang verwirrt und euphorisch und entsetzt und geschmeichelt und alles gleichzeitig.
Bei der Premiere eines unserer Stücke war der französische Autor anwesend, und ich bin voller Anspannung und Aufregung und Bewunderung (ein echter Autor!) zu ihm hin und beglückwünschte ihn (auf französisch!) zu seinem Stück. Er schwieg, schaute mich an und fragte dann: „Bist du noch Jungfrau?“
Ich war neugierig, wollte Reaktionen auslösen und testen und spüren und habe alles aufgesogen – konnte aber gleichzeitig für mich auch gut Grenzen ziehen, hatte ein starkes, gutes Gefühl von „das ist jetzt dran und das noch nicht“. Und ich hatte natürlich Glück (das andere nicht hatten), dass diese Lust, auzuprobieren, nicht ausgenutzt wurde.
Diese Erlebnisse haben mich geprägt, das waren Situationen, die mich gereizt, verwirrt, geschmeichelt haben – und an denen ich gewachsen bin.
Teil II
In dem aus Spannung, die mal gut grenzwertig war, eine gefährliche Normalität wird.
Es gibt Graubereiche zwischen „normalem“ Verhalten und verletzendem – und das ist subjektiv, und keiner kann über andere richten, was sie verletzend finden dürfen und was nicht. Dass es zum Graubereich wird, und nicht eindeutig bleibt, ist meist eine Frage von Kontext – was davor gesagt wurde, was ich signalisiert habe, dass ich lustig oder spannend finde, was in diesem Raum als normal gilt, wie freiwillig ich diesen Raum betreten habe und was ich mir dort erwarte.
Das hat somit nicht nur mit dem Verhalten des Anderen zu tun, sondern auch mit meinem und meiner Verfassung: Was ich in einem Moment weglachen kann, kann mich in einem anderen Moment völlig kalt erwischen.
Der Mitschüler, der mir, bei einem Schülerzeitungstreffen, vor allen anderen, kurz zwischen die Beine griff, wie zu einer schnellen Mutprobe – das habe ich ignoriert und verdrängt, aber es gab mir langfristig ein Gefühl von Angreifbarkeit, Verwundbarkeit.
Der Kellner, der mich in dem Bistro, in dem ich arbeitete, mehrfach in den Kühlraum zog und seine Zunge in meinen Mund drückte – das hat mich amüsiert, ich war Single und gelangweilt und er gefiel mir zwar nicht ausdrücklich, aber es gehörte zu meinem Selbstbild, solche Vorfälle als harmlose Stories über dumme Typen zu sammeln.
Der Besitzer eines teuren Restaurants, der zuerst bei uns am Tisch eine Kellnerin unpassend umarmte und mir dann in den Nacken, in die Haare griff, mit den Worten „Ich darf doch mal, ich mag sowas“ – das hat mich endlos wütend gemacht, und ich fühlte mich im Stich gelassen und ausgeliefert von der älteren Frau, die mit mir am Tisch saß und die ihn schon länger kannte.
Der Mann, der brüllend die Klotür aufriss, während ich pinkelte, und vor mir seinen Kumpels von der Form meiner Hüfte berichtete – da habe ich mich gewehrt, aber trug es trotzdem noch viel zu lange als seltsame Angst in mir herum.
Und so weiter – manchmal habe ich gelacht, manchmal mich im Stillen aufgeregt, manchmal (seltener) habe ich mich öffentlich geärgert, manchmal (noch seltener) hatte ich wirklich Angst.
Über die Jahre habe ich mich vor allem daran gewöhnt, dass manche Männer sich offensichtlich so benehmen.
Ich bin so müde, was diese Themen angeht. Ich muss meinen Wert nicht mehr austesten, wie in ersten flirtenden Teenie-Jahren, ich suche weniger mich selbst in Interaktionen mit der Welt, ich muss mich nicht mehr positionieren wie früher, es gibt so vieles, was sich wichtiger anfühlt … Ich gähne und denke: Ah ja, du ein Mann und wieder aktiv. Diese Müdigkeit verschleppt meine eigene Körperreaktion – ich will deine Finger eigentlich gerade überhaupt nicht auf meiner Hand. Wie verwundert ziehe ich sie zu spät zurück.
Ich lächele gerne und bewusst ältere Frauen an. Ich will ihnen zeigen, dass ich sie sehe. Ältere Männer lächele ich nicht so aktiv an. Ich will ihnen nicht das geben, was ich glaube, das sie von mir erwarten.
Teil III
In dem ich es nicht schaffe, ein klares Signal zu setzen und eine Hand abzuschütteln.
Doppelt so alt wie damals am Theater stehe ich spät in einer Bar und ein Kollege fasst mich an den Händen. Sein Zug geht am frühen Morgen und ich hatte mich überreden lassen – war so nett – mit ihm noch ein Bier zur Zeitverkürzung zu trinken. Er fühlt sich einflussreich, bietet an, meine Texte in einer Zeitschrift zu platzieren, in holprigen Hüpfern geht es von einem Thema zum nächsten, seine Arbeit, seine Szenekenntnis, seine Fachkenntnis, ich sei ihm ja vom allerersten Moment an sympathisch gewesen, das müsse er mir jetzt mal sagen, was mit meiner Ehe, was von seiner Ehe – dabei hält er immer wieder meine Hände, wirrt von hier nach dort, drückt mich, entschuldigt sich, ich schiebe ihn weg, er kommt näher, es ist endlos. Leergetrunken und raus, und in den letzten gemeinsamen Metern überschlägt er sich sprachlich, ich sähe ja hinreißend aus und der Mantel und ich solle auf die Ampeln aufpassen und ihn nochmal umarmen …
Ich fliege davon, so schnell meine Pedale mich tragen.
Eine ganz klassische Situation also: Ein Mann ist schon lange dabei, mit einer Erfolgsschnuppernase und einer gut gepflegten Skurrilität, es ergibt sich die Gelegenheit für einen Moment zu zweit mit einer jüngeren Frau, und er versucht mit einer völlig durchschaubaren Mischung aus Fachthemen, Gruppendiagnose, persönlichen Anekdoten und verschwurbelten Komplimenten die Frau anzufassen.
Als ich dann heimgehe und voller Ekel bin, ist das auch ein Ekel mir gegenüber – warum habe ich nicht schneller und entschlossener reagiert?
Ich sehe seine Finger wieder vor mir, an meinen Händen, wie die Tentakel eines grinsenden Tieres. Ich könnte schreien: Warum verflucht nochmal entwickle ich diesen Ekel erst jetzt? Wo ist der in dem Moment, wenn ich ihn brauche? Wenn ich diese Finger nicht nur abschütteln, sondern wegschlagen müsste? Es fängt immer mit Fingern an. Warum gebe ich Situationen immer so lange das Label „witzig“ oder „ironisch“ und mache sie damit aushabltbar, warum muss ich immer so lange lieb sein? I know this scene in countless variations. Ich brauche das nicht. Ich brauche diese Ratschläge, diese Gefälligkeiten, diese gespielte Bewunderung nicht – ich will nicht eingekauft werden.
Wenn ich Monate später noch diese Person nicht sehen will, auch wenn, faktisch gesehen, fast gar nichts passiert ist – warum schäme ich mich?
Teil IV
In dem ich einen Raum aufmache, in dem mir das peinlich sein darf.
Ich schäme mich, weil ich natürlich anders handeln will. Ich habe ein schlechtes Gewissen nicht nur mir gegenüber, sondern allen Frauen um mich, den Freundinnen, den Töchtern gegenüber, die ihr habt oder haben werdet, die ich mal haben könnte. Ich hätte nicht gewollt, dass ihr so uneindeutig handelt, und ich hätte nicht gewollt, dass ihr seht, wie ich so handele.
Ich will sehen, wie ihr stark und unerschrocken Grenzen zieht, wie ihr ganze Männchen mit einer ausholenden Armbewegung abschüttelt. Ich will hören, wie ihr schlagfertig und scharfzüngig seid. Ich will euren Mut riechen. Und ich will euch so gerne zeigen, dass ich das auch kann.
Aber: Ich will mich auch schämen dürfen. Denn ich bin Mensch und kann nicht immer stark sein, ich mache Dinge falsch, und ja, manchmal erstarre ich einfach.
Wir können nicht immer nur die Heldinnengeschichten liefern, und wir dürfen sie auch nicht immer erwarten. Wir brauchen auch einen Platz für den misslungen Versuch, sich zu wehren, den noch nicht mal versuchten Versuch, das Nachdenken über den Versuch.
Teil V
In dem eine Unterstützung versucht wird und mich überfährt.
Blöder Vorfall, kaum ein Vorfall, abschütteln und weitermachen. Aber dieser Kollege ist Teil einer Gruppe, von der ich nun nicht mehr Teil sein will, und Teil einer Szene, von der ich weiterhin Teil sein will. Und so laufe ich ihm natürlich wieder über den Weg und am liebsten würde ich es nicht, und ich lege Termine und besuche Veranstaltungen so, dass ich ihm möglichst wenig begegne.
Das bekommt ein anderer Kollege mit – denn ich erzähle es ihm – und er stemmt sich dagegen. Das gehe nicht an, dass ich mich aus diesem Grund nicht mehr wohl fühle in diesen Kreisen, das könne er nicht zulassen, dass eine Person das in mir auslöst, dessen Verhalten sei „nicht normal“.
Er bespricht sich mit anderen, es wird thematisiert, andere Frauen haben mit dem gleichen Mann ähnliche Situationen erlebt, auf einmal sind weitere Menschen nachdenklich und vielleicht wird die betreffende Person das spüren, zu spüren bekommen, vielleicht wird es ihr zugetragen, mit Sicherheit spricht es sich weiter rum.
Ich fühle mich ertappt: Ich war bereit, eine Grenzüberschreitung als normal auszuhalten, das Unangenehme auf meine Kappe zu nehmen, für mich Konsequenzen zu ziehen und eben nicht mehr auf bestimmte Veranstaltungen zu gehen. Erst durch die Unterstützung und die Wut von anderen stelle ich fest, dass der Vorfall nicht nur mich angeht. Dass es wichtig ist, dass darüber gesprochen wird und wie gut das tut, wenn andere sich für einen hinstellen.
Aber es tut nur kurz gut, und ich fühle mich in den folgenden Wochen beim weiteren Reflektieren der Geschichte nicht mehr ertappt, sondern übergangen.
Noch genauer: Diese Unterstützung fühlt sich bei genauerer Betrachtung wie ein zweiter Übergriff an.
Ein Freund – ein Mann –, wollte sich kümmern, wollte das Richtige tun, hat entschieden, dass das Verhalten einer Person unpassend war und will eine Wiederholung dieses Verhaltens vermeiden. Schön und gut.
Aber mit genau dieser väterlichen Art setzt er mich (unwillentlich) in eine passive Rolle: Er entscheidet, ohne sich weiter mit mir zu besprechen, was falsch läuft und wie er es richten kann, und berichtet es mir danach, sachlich und liebevoll, in einem Tonfall von ich-habe-etwas-erledigt.
Warum hat er nicht einfach gefragt: Was brauchst du, damit du nächstes Mal anders reagieren kannst?
Wieso fällt dieses Nachfragen speziell Männern (aber eigentlich uns allen) so schwer? Wieso handeln wir lieber und tun erstmal etwas? Wieso hat auch er gehandelt, ohne darauf zu achten, wie sich das für mich anfühlt, ohne ein Gespräch darüber zu beginnen, ob diese Unterstützung für mich sinnvoll ist?
Ich will keine Welt, in der alles, was „nicht normal“ ist, ausgegrenzt wird. Ich will nicht bestimmen, was in welchen Kreisen als normal gilt. Ich schätze auch mal Situationen verkehrt ein, benehme mich daneben, mache dumme Sprüche und dreckige Witze und erfreue mich an der Pikiertheit von anderen. Ich habe auch schon andere sexuell unter Druck gesetzt, Energie genommen, Energie gesetzt.
Die Versuche, jeden einzelnen Trigger zu vermeiden, und das Abrunden von allem, was eventuell anecken könnte, finde ich eher schädlich als schützend. Es kann nicht immer alles nur komplett korrekt ablaufen. Menschen brauchen dieses Komische, wir brauchen das Ringen um die passende Distanz, das Ringen um eigenes Verhalten und Fremdverhalten. Ich bin nicht für Ausgrenzung und Ausschluss, auch dann nicht, wenn es zu meinem Vorteil wäre.
Aber ich will außerdem nicht angefasst werden, wenn ich es nicht will.
Ein Bild, das ich mir früher oft vorgestellt habe: dass Hände Abdrücke oder Abrieb hinterlassen, wie bei einer dunklen Skulptur die abgeriebenen leuchtenden Stellen. Welche Spuren würde ich an wem sehen, wer wäre dann wo wie oft angefasst worden? Wie wären Menschen mit weniger Abrieb? Wie die mit viel Abrieb?
Wenn das „nicht normale“ Verhalten, das Anbaggern und Anfassen, zum Alltag gehören und mir normal erscheinen, bin ich nie ganz da. Ich erzähle meine Geschichte nicht mit Selbstverständlichkeit, ich bewege mich nicht komplett frei, ich beiße die Zähne zusammen und schlucke Kommentare runter.
Das ist ein Problem für eine Gesellschaft, wenn eine Hälfte der Beteiligten ihre Geschichte nicht mit Selbstverständlichkeit erzählt.
Und trotzdem (!) beschließe ich, dass ich auch nicht möchte, dass derjenige, der Grund für mein eingeschränktes Verhalten ist, ausgegrenzt wird. Weil ich nicht in einer ausgrenzenden Gesellschaft leben will, weil ich nicht ausgrenzen will, weil ausgrenzen auch bedeutet, dass man sich nicht auseinandersetzt.
Teil VI
In dem wir miteinander reden müssen.
Was für Rahmenbedingungen braucht eine Gruppe von Menschen in einer Szene, in der alles verhandelbar scheint und die von wilder, seltsamer Energie lebt, um produktive und nährende Kommunikation zu fördern?
Was für Rahmenbedingungen braucht eine Jugendliche, um die „richtigen“ sexuellen Erfahrungen zu machen?
Was für Rahmenbedingungen brauchst du, um dich sicher und frei zu bewegen?
Hier finde ich keine pauschale Klarheit.
Ich kann eine solche blöde Bar-Situation als sexuelle Belästigung anprangern, aber was nützt es mir wirklich? Ich kann keine Regeln aufstellen, es bringt nichts zu sagen, „Ihr dürft alle nie die Finger einer anderen Person berühren oder ihr Komplimente machen, wenn ihr euch nicht hundertprozent sicher seid, dass sie das will“.
Die allgemeine und schuldzuschreibende Forderung, nicht über die Grenzen anderer zu gehen, bringt auch nicht so viel – die einen spüren das von selber, andere haben es nie gelernt und ganz andere wollen sie bewusst überschreiten.
Die einzige Klarheit, die ich finde: Wir müssen das mit den Grenzen einüben, das respektvoll Grenzen anderer wahrnehmen und respektvoll Grenzen für sich selber setzen. Wir müssen uns gegenseitig mehr sehen, besser zuhören, besser verstehen wollen. Damit wir nicht hungern nach Anerkennung, damit wir aus einer Erfülltheit heraus deutlich sagen können, was uns gefällt und was uns stört. Damit wir wissen und spüren, dass es eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten gibt, Gefühle auszudrücken. Damit wir alle mehr Register und Zwischentöne zur Verfügung haben.
Jeden einzelnen so stärken, dass keiner Gefühle runterschluckt, weil er/sie gefallen will. Dass keiner Angst haben muss, komisch zu sein. Dass jeder aufmerksam sein Gegenüber beobachten kann, und spürt, was das Gegenüber will und was nicht.
Oder zumindest: meistens.
Ich will Verantwortung für eine Situation übernehmen, in der ich belästigt werde. Weil mich meine Verantwortung frei und aktiv hält. Zum Beispiel die Verantwortung, mein Gegenüber zu konfrontieren. Ihm zu sagen: Ich will das nicht. Dafür zu sorgen, dass er mich versteht, dass er spürt, dass er eine Grenze überschritten hat.
Ich will das können.
Das ist nicht gleichbedeutend mit: „Jetzt muss das Opfer auch noch die Schuld tragen und arbeiten!“
Wir müssen alle arbeiten. Ich will nicht, dass mir diese Arbeit abgenommen wird, dass ich passiv gemacht werde, indem andere dafür sorgen, dass der Betreffende irgendwann erfährt, dass er irgendwann etwas falsch gemacht hatte. Wenn wir überhaupt irgendeine Chance haben, die Pseudo-Normalität unangenehmer Situationen aufzulösen, wird uns das nur in der jeweiligen Situation gelingen. Wenn ein Fehlverhalten nachträglich und nur halb sichtbar Konsequenzen hat, die derjenige überhaupt nicht zuordnen kann, macht das es ihm einfach, sich gejagt zu fühlen und alles zu verteufeln. Lernen wird er nichts daraus, weil er keine Situation erlebt, aus der er lernen kann. Und somit: wird er sein Verhalten auch nicht ändern.
Wenn ich in der Zweiersituation anders reagieren könnte, gäbe es aus meiner Sicht immerhin eine kleine Chance, dass der Betreffende selber nachdenklich wird.
Dafür will ich Unterstützung. Ich weiß nämlich nicht wirklich, wie das gehen kann.
Dafür brauche ich zum Beispiel: Regelmäßige, offene, sensible Gespräche mit Männern über dieses Thema. Ich kenne heterosexuelle verheiratete Mittdreißiger, die keinen blassen Schimmer von dem Alltagserleben einer Frau haben, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, dass „so etwas“ öfter passiert. Das muss sich ändern, damit sich überhaupt etwas bewegt.
Ich wünsche mir ein gefühlt sicheres Umfeld – Männer und Frauen um mich, die mir signalisieren, dass sie spüren, dass sich da eine komische Stimmung anbahnt, dass sie sensibel registrieren, was passiert. Nicht damit sie mich verteidigen, aber damit ich mich innerlich auf sie stützen kann, um mich selber zu verteidigen.
Und ich will weibliche Vorbilder und ernsthafte, analysierende, praktische Gespräche unter Frauen über diese Themen. Nicht das häufige achselzuckende „Jaja, das passiert halt“ oder das gemeinsame Kaputtlachen über die Doofheit eines Mannes. Ich will von anderen Frauen hören, dass sie versucht haben, etwas zu entgegnen, und ob es ihnen gelungen ist oder nicht. Ich will anderen erzählen können, dass ich es versucht habe.
(Nochmal ganz deutlich: Ich beziehe mich hier auf uneindeutige Situationen, solche, die man je nach Perspektive wohlwollendauch als Flirt oder Scherz oder Exzentrik begreifen könnte, und die trotzdem verletzen und verunsichern. Ich spreche nicht von eindeutigen Übergriffen oder sexueller Gewalt.)
Ohne miteinander zu sprechen, können wir diese Situationen nicht dauerhaft vermeiden.
Ich sehe natürlich meinen Widerspruch: In einer mich verunsichernden Welt, in der ich meine Geschichte nicht mit Selbstverständlichkeit erzählen kann, kann ich auch nur schwer die Gespräche führen, die diese Welt irgendwann verändern könnten.
Da ich aber glaube, dass uns nichts anderes übrig bleibt, kratze ich meinen Mut dafür zusammen, beiße die Zähne zusammen und erzähle, holprig und zögernd und alles andere als selbstverständlich, aber immerhin ist es erzählt.
“How does one get across the fact that the best way to find out how people feel about their gender or sexuality - or anything else, really - is to listen to what they tell you, and to try to treat them accordingly, without shellacking over their version of reality with yours?”
― Maggie Nelson, The Argonauts
“What is on the other side of the tiny gigantic revolution in which I move from loathing to loving my own skin? What fruits would that particular liberation bear? We don't know—as a culture, as a gender,as individuals, you and I. The fact that we don't know is feminism's one true failure. We claimed the agency, we granted ourselves the authority, we gathered the accolades, but we never stopped worrying about how our asses looked in our jeans.There are a lot of reasons for this, a whole bunch of Big Sexist Things We Can Rightfully Blame. But ultimately, like anything, the change is up to us.”
– Cheryl Strayed, Tiny beautiful things
“We know ourselves as part and as crowd, in an unknown that does not terrify. We cry our cry of poetry. Our boats are open, and we sail them for everyone.”
― Édouard Glissant, Poetics of Relation
☞ Weiterlesen
- Ein sehr langer Artikel – der diesen langen Artikel stark beeinflusst hat – über die benötigte Veränderung der Gesellschaft, um Vergewaltigungen zu vermeiden und Männern wirkliche Gespräche über ihre Gefühle zu ermöglichen: The opposite of rape culture is nurturance culture
Über sexuelle Belästigung in arbeitsnahen Bereichen (eine winzige Auswahl möglicher Artikel zu diesem Thema):
- Ein Essay einer amerikanischen Schriftstellerin, die von zwei renommierten Professoren missbraucht und belästigt wurde – “It’s amazing, isn’t it? Every woman has her story.”
- Elf Antworten von Autorinnen auf den genannten Essay
- Ein Artikel einer transsexuellen, kanadischen Schriftstellerin über das gesammelte Schweigen über solche Vorfälle – “Sometimes women have to make hard choices to be writers.”
- Warum eine Politikerin nie gemeldet hat, dass sie laufend sexuell belästigt wurde – “The onus must be on men to address and stop these actions when they see them, both in others and, most importantly, in themselves.”
- Ein Essay über die unterschiedlichen Blickwinkel von Männern und Frauen auf bestimmte Statistiken, und die Gespräche, die Männer und Jungs vielleicht öfter führen sollten – “We never know how our words, our stories, may grow in another person.”
- Ein Bericht einer Musikerin und Tontechnikerin über den Alltagssexismus, dem sie laufend ausgesetzt ist, ergänzt durch einige relevante Studien zum Thema Sexismus am Arbeitsplatz und einem Haufen wilder Kommentare – “The difference between feeling that I belong or am an impostor, of feeling supported or undermined – these affect my performances, whether I choose to voice opinions and the quality of my work.”
Ein Zitat aus einem Interview mit Vanessa Grigoriadis, Ergänzung vom 5. September:
[…] I’m talking about the weird, mushy, unexplained middle stuff with consent.
Most feminists would say that there’s not a mushy middle: If there’s no consent, it’s rape.
We’re stuck in this weird vise where one side says 90 percent of cases are bogus, as Candice Jackson, Betsy DeVos’s deputy, said. The other side says that every single case of sexual assault is incredibly traumatic, and the woman has zero responsibility in any way — which again, I believe! — but let’s be honest, we’re in a situation where some of these cases do look bad. I just want people to say, “Look. We socialize in a different way now. We think it’s okay for our platonic friends to sleep in our beds. We think it’s okay to put sexy pictures on Instagram. We think it’s fine to talk raunchy in a bar, to go on anonymous dating apps.” Things have changed, particularly for this young group who have only had sex once or twice before in their lives. They’re coming out of it feeling incredibly violated. We need to do something about that. If the conversation was more nuanced, maybe we could get to a more honest place, you know?