Stimmberechtigt 2 - Alltagsbeobachtungen
Ich möchte über Stimmen sprechen. Über weibliche und männliche Stimmen, was mit ihnen verbunden ist, in welchen Kontexten sie uns begegnen und was es noch so Hörenswertes über sie gibt. Damit meine ich nicht die metaphorische Stimme, das chronische Nicht-Gehört-Werden als Frau(en). Ich meine echte, physische Stimmen, die entstehen, wenn die Stimmbänder aneinander reiben und die Sprechorgane Laute produzieren.
In der Regel können wir männliche von weiblichen Stimmen unterscheiden. Weibliche Stimmen sind oft höher und männliche Stimmen tiefer, das liegt wohl daran, dass Männer in der Pubertät einen Stimmbruch haben, bei dem sich die Stimme senkt. Stimmen gehören zum Körper, sie sind sogar sekundäre Geschlechtsmerkmale (wie ich aus dem Biologieunterricht der 6. Klasse weiß), doch nur selten wird über sie gesprochen, anders als über Brüste, Bartwuchs, Körpergröße oder Körperbau. Wie bei allem, was irgendwie mit der Katergorie Geschlecht zu tun hat, wird auch bei Stimmen eine Binarität, das heißt eine Zweiteiligkeit vorausgesetzt, die es nicht gibt. Es gibt mehr als zwei Geschlechter und deshalb ist auch die Einteilung in ‘männliche’ und ‘weibliche’ Stimmen, wie ich sie hier vornehme problematisch. Mir ist auch durchaus bewusst, dass viele Transmenschen und Intersexuelle und manchal auch cis-Menschen* darunter leiden, dass eine Übereinstimmung zwischen wahrgenommenem Geschlecht und der Stimme erwartet wird. In meinen Beispielen werde ich mich auf Stimmen von cis-Menschen beziehen, also Menschen die sich dem Geschlecht, mit dem sie geboren wurden zugehörig fühlen und sich entweder als ‘Mann’ oder als ‘Frau’ bezeichnen.
Bei Hörbüchern wird - anders als beim Hörspiel - ein Buch nur von einer Stimme vorgelesen. Dabei ist mir aufgefallen, dass auch Bücher von Autorinnen sehr oft von einer männlichen Stimme vorgelesen werden, zumindest dann, wenn es keinen Ich-Erzähler gibt, der/die eindeutig einem Geschlecht zugeordnet ist. Wieso wird Harry Potter beispielsweise von alten Männerstimmen gelesen? Die deutsche Fassung liest Rufus Beck, die englische Stephen Fry - beide lesen großartig, aber mir würden da schon auch Frauen einfallen, die es ebenso großartig könnten. Jetzt könnte man natürlich sagen, Harry Potter wird aus der Sicht einer männlichen Figur erzählt. Ja, ist mir schon klar, aber es ist nur ein Beispiel (ausgewählt, weil es wohl das bekannteste ist), ich könnte auch noch mehr nennen. Und es ist ja auch nicht so, dass es von einer jünger klingenden Stimme gelesen wird, die etwa Harrys Alter entspricht. Nein, gelesen wird das Hörbuch von einer alten, männlichen Stimme, die uns suggeriert, dass wir gerade von einem Märchernerzähler ein Märchen vorgelesen bekommen - so wie am Anfang zahlreicher Disneyfilme oder beim Film Die Brautprinzessin.
Bei einer kleinen und äußerst unempirischen Studie in meiner bevorzugten Hörbuch-App habe ich herausgefunden, dass eine männliche Stimme fast alles lesen kann. Männlicher Autor, weibliche Hauptfigur, männliche Stimme: kein Problem. Fontanes Effi Briest hat ebensoviel Vorleser wie Vorleserinnen. Aber: weibliche Autorin, weibliche Hauptfigur und dann auch noch “Frauenliteratur” - unmöglich, dass sowas ein Mann vorliest. Es gibt kein einziges Jane-Austen-Hörbuch, das von einem Mann gelesen wird! Wieder ein Beispiel für sogenanntes Othering. Die männliche Stimme ist die unmarkierte Stimme. Sie kann alles sagen und wenn sie über Frauenthemen spricht, dann erhebt sie die Frauenthemen zu allgemeingültigen Themen. Eine Frauenstimme sagt uns: Von Frauen, für Frauen.
Männlichen Stimmen glaubt man. Sie haben Autorität. Es ist die weibliche Stimme, die in der Werbung sagt, ein Shampoo rieche gut oder eine Créme sei “streichelzart”. Am besten noch mit einer hauchigen Stimme, wie Susanne Müller, die Off-Stimme aus Herzblatt. Weibliche Stimmen sind sinnlich und sprechen auch über sinnliche Erfahrungen. Die männliche Stimme fügt dann hinzu: “Von Dermatologen getestet.” Männliche Stimmen sind also Expertenstimmen. Ob das nun an den Stimmen liegt oder daran liegt, dass Männer in unserer Gesellschaft mehr Autorität haben und vor nicht allzu langer Zeit noch deutlich häufiger als Frauen wissenschaftliche Positionen besetzten, sei dahingestellt. Ich glaube aber, dass wir gelernt haben, was wir mit männlichen und was wir mit weiblichen Stimmen assoziieren.
Man hört ja oft, tiefe, männliche Stimmen würden beruhigen, seien schöner (deswegen auch mehr männliche Sänger als Frauen?) als so kreischige Frauenstimmen. Kein Wunder, dass das DB Magazin da hauptsächlich männliche Podcasts kürt, wer will schon anstrengenden Frauenstimmen lauschen? Und auch der Buchklassiker, Warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können suggeriert, dass weibliches Gesprächsverhalten anstrengend ist. Deswegen erklären Autor und Autorin den Frauen auch wie sie männerfreundlich kommunizieren sollen. Das Kapitel schließt mit einem Absatz über “Schulmädchenstimmen” ab. Darin steht, dass Frauen eine hohe, piepsige Schulmädchenstimme einsetzen, um zu flirten. Toll, wenn der Mann die Flirtversuche auch versteht, aber dann soll sie bitte wieder tiefer sprechen.** Eine hohe Tonlage wählen Frauen aber nicht, um wie kleine Mädchen den Beschützerinstinkt des Mannes zu wecken, wie das Buch es ihnen unterstellt. Das Heben der Stimme zeigt Interesse am Gespräch und an der gemeinsamen Interaktion an und soll animieren. Gerade wenn Mütter ihre Stimme anheben, um mit ihren Säuglingen zu kommunizieren, hilft es den Kindern beim Verstehen und Sprechenlernen.
Ein Kollege erzählte mir neulich, dass an seiner Universität alle Dokorand*innen Softskill-Kurse während der Promotion absolvieren müssten. Männer lernten in diesen Kursen, wie man Anzüge richtig trägt, die Frauen bekamen Sprechtraining, um bei Vorträgen tiefer zu sprechen. (Wer wissen möchte, was man unabhängig von Stimme bei Vorträgen und in Gesprächssituationen verbessern kann, kann unser Interview mit der Sprechtrainerin Beatrix Schwarzbach lesen.) Mir gab ein Lehrer nach einem Geschichtsreferat in der 7. Klasse eine schlechte Note, mit der Begründung, ich hätte eine “quäkende Nöhlstimme” und ich solle eine Logopädin aufsuchen. Sein Kommentar hat mich sehr verletzt und jahrelang verunsichert. Ich wünschte ich hätte ihn hysterisch angeschrieen! Und auch das schon erwähnte Buch Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken können weist darauf hin, dass “eine Frau mit einer tieferen Stimme im Geschäftsleben für intelligenter, respekteinflößender und glaubwürdiger gehalten wird. […] Viele Frauen, die mehr Autorität erlangen wollen, sprechen fälschlicherweise mit einer höheren Stimme, was sie aggressiv erscheinen läßt.” **
Tatsächlich ist es so, dass nicht tiefere Stimmen per se angenehmer, respekteinflößender oder glaubwürdiger sind. Entspannte Stimmen werden als angenehm empfunden, da sich die Entspanntheit auch auf die Zuhörer*innen überträgt. Stimmen sind im unteren Drittel des eigenen Stimmbereichs entspannt, woher vielleicht auch die falsche Annahme kommt, tief sei gleichzusetzen mit angenehm. Viele Frauen sprechen tatsächlich nicht in ihrer entspanntesten Stimmlage - ich frage mich, ob das vielleicht auch etwas damit zu tun hat, dass Frauen sich in Unterhaltungen oft gegenüber Mansplainern und chronischen Unterbrechern behaupten müssen. Es kommt mir auch eigentlich gar nicht darauf an, wieviele Frauen im oberen Drittel ihrer Stimmlage sprechen. Mir kommt es vor allem darauf an, was dann in der Alltags- und Medienwelt daraus gemacht wird. Wie weibliche Stimmen abgewertet werden, in welchen Kontexten sie stehen oder wie sie beschrieben werden.
Oft wird zum Beispiel auch das Wort “hysterisch” verwendet, wenn es um Frauenstimmen geht. Frauen kreischen hysterisch. Das sind aber Attribute, die nicht nur die Stimme beschreiben, sondern Irrationalität und Emotionalität unterstellen. Um bei meinem Lieblingsbeispiel zu bleiben: In den Harry-Potter-Büchern werden um Hermines Sprache zu beschreiben die Wörter “shriek”, “squeak”, “squeal”, “wail” und “whimper” verwendet (etwa: schreien, kreischen, quietschen, jammern und wimmern) und stehen sogar wortwörtlich neben “hysterisch”. Für die sonst rationale und logisch handelnde Hermine, die sehr bedacht Probleme lösen kann, sind ihre Ausbrüche fast out of character. Unnötig zu erwähnen, dass ihre männlichen Peers nie mit diesen Verben und Adverbialphrasen beschrieben werden.***
Ich wollte meine Alltagsbeobachtungen teilen und darauf aufmerksam machen, dass auch Stimmen Männer und Frauen und die damit verbunden Rollenmuster und Sterotype sichbar machen. Auch wenn wir etwas nur hören, Geschlecht schwingt immer mit. Vielleicht liegt es ja an unseren Hörgewohnheiten, welcher Stimme wir vertrauen. Oder umgekehrt: Was wir sehen, was wir erfahren, übertragen wir auf Stimmen. Aber es ist wichtig, das zu hinterfragen. Es ist wichtig weibliche Expertenstimmen zu hören. Es ist wichtig auch Schülerinnen oder Kolleginnen zu sagen, dass ihre Stimmen gut sind, so wie sie sind. Es ist wichtig, dass Stephen Fry Stolz und Vorurteil vorliest! Oder vielleicht sollten wir nicht nur Wörter reclaimen sondern auch das hysterische Kreischen an sich!
*Hier geht zum Gender-Glossar von innenAnsicht. Dort kannst du nochmal nachlesen, was diese Begriffe bedeuten.
**Barbara und Allan Pease: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. Ganz natürliche Erklärungen für eigentlich unerklärliche Schwächen. Berlin 2000. S. 159–160.
***Eliza T. Dresang: “Hermione Granger and the Heritage of Gender” in The Ivory Tower and Harry Potter: Perspectives on a Literary Phenomenon, hrsg. v. Lana A. Columbia und London 2002. S. 223.