Pink Is Not Just For Girls
Mein Sohn hat einen neuen Regenanzug. Als es regnet, will er ihn anziehen, um damit in die Kita zu gehen. Also hole ich ihn aus dem Schrank.
Sein Vater und ich haben diesen Regenanzug online bestellt, als ein Kinder-Outdoor-Label im Sommer Ausverkauf hatte. Wir hatten die Auswahl zwischen einem blauen, einem grauen oder einem roten Anzug. Wir haben uns für den roten entschieden.
Als der Regenanzug bei uns ankommt, stellen wir fest, dass er nicht ‚rein‘ rot ist. Sondern vielmehr rosa-rot gestreift. Es ist ein wunderbarer Anzug, der jedem Regen und jedem Sprung in die Schlammpfütze standhalten wird. Wir behalten ihn. Er gefällt meinem Sohn.
Ratternde Gedanken, die sich festsetzen
Auf dem Weg in die Kita habe ich ein klopfendes Herz und in meinem Kopf rattert es. Ich nehme wahr, dass da eine unterschwellige Angst lauert, die ich am liebsten wegschieben möchte. Sie setzt sich trotzdem fest.
Wie wird es meinem Sohn ergehen in seinem rosa-roten Anzug, wenn er ihn nach dem Morgenkreis in der Kita wieder anzieht, um nach draußen in den Garten zu gehen? Wird mein Sohn von den anderen Kindern darauf hingewiesen werden, dass sein Anzug ja rosa ist? Wird er ausgelacht werden? Werden Kommentare von anderen Leuten seinen Blick auf den Regenanzug verändern – sodass er ihn morgen und an kommenden Regentagen nicht mehr tragen will?
Eine Mutter, die auf Jacken starrt
Ein Blick auf die im Vorraum der Kita hängenden Jacken zeigt mir: ich kann sofort unterscheiden, welche Jacke einem Mädchen gehört – und welche einem Jungen. Die Jacken der Mädchen sind rosa, pink, glitzernd rosa gepunktet, mit Blümchen in Pastellfarben oder mit aufgedruckten Disney-Prinzessinnen. Die Jacken der Jungs sind blau, grün, dunkelgrau. Mit Autos, Blitzen, Superhelden.
Die Namensschilder über den Jacken untermauern meine Beobachtung. Erschreckend. Es gibt keine Mischformen. Wo sind die Jacken, bei denen ich nicht sofort weiß, ob sie ein Junge oder ein Mädchen anziehen wird? Warum sind Kleidungsstücke schon im Alter so kleiner Kinder Ordnungsinstrumente, die sie in zwei verschiedene Kategorien sortieren?
Wer darf diese Farben tragen?
Ich merke, wo meine Angst sitzt: Ich fürchte, dass mein Kind mitbekommen und in der Folge auch aussprechen könnte, dass Pink, Rosa, Glitzer, Pastelltöne nicht ‚für ihn gedacht‘ sind. Weil er ja ein Junge ist. Dass er sein Junge-Sein deutlich machen könnte über Ablehnung: zuerst von bestimmten Farben, dann von Verhaltensmustern und später von einer ganzen Gruppe von Individuen.
Allzu oft definiert sich das Männliche in der Abgrenzung zum Weiblichen. Indem ein Junge klarstellt, dass er sowas nicht trägt und damit nicht so ist – zieht er klare Grenzen und definiert sich selbst als männlich.
Wie werden wir dann darüber kommunizieren? Nach innen und nach außen? Gleichzeitig habe ich Angst vor dem Klischee-Denken in mir: Rosa, das geht doch nicht für einen Jungen.
Verdammt, wir haben doch 2017!
Ich werde wütend auf mich selbst. Wie komme ich zu solchen Gedanken, die gegen alles stehen, woran ich glauben will? Es ist 2017, ich lebe in Berlin und gründe mein berufliches Handeln auf den bewussten Umgang mit Sprache und dem öffentlichen Sprechen von Frauen. Ich will so sehr daran glauben, dass für beide Geschlechter alles gehen muss. Und jetzt diese ganzen Gedanken, ausgelöst durch einen Regenanzug?
Es geht nicht darum, was ich anziehe oder wie ich mich präsentiere – sondern um mein Kind. Und da merke ich, wie tief der Zweifel in mir sitzt – und dass meine eigene Prägung mich jetzt doch einholt. Die tausend Stimmen, die mir seit meiner Kindheit über die unterschiedlichsten Kanäle zugeflüstert haben: Rosa ist nur was für Mädchen. Alle sollen anziehen, was sie wollen, will ich rufen.
Aber. Als ich schwanger war, habe ich mir eine Tochter vorgestellt. Ich hatte das Bild vor Augen, wie ich ihr später Kleidungsalternativen zu Rosa und Tüll aufzeigen würde. Nun habe ich einen Sohn und merke, dass die wirkliche Herausforderung ist, ihn Rosa tragen zu lassen.
Rosa für einen Mann
Zwei weitere Kleidungsstücke kommen mir in den Sinn. Vor einigen Jahren begleite ich meinen besten Freund zum Einkaufen. Er hat etwas Konkretes im Sinn, und er will meine Meinung dazu wissen. Ein rosa Hemd soll es sein. Es gefällt ihm gut, und er kokettiert mit dem Gedanken, es zu allen möglichen Gelegenheiten zu tragen.
Trotzdem kann er es nicht einfach kaufen und anziehen. Er braucht mich dazu. Neben dem Spiegel stehend, soll ich ihm versichern, wie er mit dem Hemd nicht aussieht. Das hört sich dann so an: „Ist das eh nicht zu schwul / weiblich / tuntig? Kann ich das zu einem Date anziehen, oder glaubt sie dann, dass ich …“
Damals weise ich ihn noch nicht darauf hin, wie sehr diese Fragen stechen. Wahrscheinlich ist es mir noch nicht so bewusst. Schlussendlich kauft er das Hemd. Danach verschwindet es in seinem Schrank.
Pink für ein Baby
Viel später bekommt mein Sohn einen Body zur Geburt geschenkt. Darauf steht in schwarzen Lettern: ‚Pink is not just for girls.‘ Er ist knallpink – und sticht aus dem restlichen Berg an neu zu uns gekommenen Klamotten wie ein Alien hervor.
Ich ziehe ihm den Body dankbar immer wieder an – bis mein Sohn aus ihm herauswächst. Jedes Mal fühlt es sich fast revolutionär an. Wenn er ihn trägt, denke ich: Wie seltsam, dass ich mich mit diesem Body immer wieder daran erinnern muss, dass diese Farbe nicht nur für Mädchen ist. So, als würde eine bestimmte Farbe einem Geschlecht ‚gehören‘.
Doch der Schriftzug auf pinkem Grund legt den Finger in die Wunde. Das fällt auf, als mein Sohn in diesem Body zwischen den anderen Kindern im Rückbildungskurs liegt. Schon die Babys lassen sich auf einen Blick in männlich und weiblich sortieren. Und da sprechen wir von kleinen, meist haarlosen Wesen, die nichts an sich haben außer ein paar Fetzchen Stoff.
Alles könnte so normal sein
Als ich meinen Sohn nachmittags abhole, zieht er sofort stolz seinen Regenanzug an. Ich scanne den Raum nach Blicken von anderen Eltern und Kindern. Ich habe mir zurechtgelegt, was ich sagen kann, wenn doch ein Kommentar kommt.
Bei der Verabschiedung läuft er zu seiner Erzieherin und zeigt auf seinen Regenanzug: „Schau mal, der ist neu.“ „Ja, und er leuchtet so schön – da kann ich dich im Regen gut sehen“, sagt sie. Wie sie darüber sprechen verrät mir, dass sie diesen Dialog heute schon einmal so ähnlich geführt haben.
Ich sehe die Erzieherin an und meinen Sohn und merke: alles kann ganz normal sein. Niemand spricht über die Farbe seines Anzugs als etwas Besonderes. Es ist ein leuchtender Regenanzug. Oder thematisieren alle, wie ich, die Farbe bewusst nicht?
Immer wieder schaue ich ihn in seinem Anzug an, und denke: Wenn ich ihn nicht kennen würde, sähe ich dann auf den ersten Blick, ob er ein Junge oder ein Mädchen ist? Wahrscheinlich nicht. Aber ich würde eine Vermutung anstellen – allein durch die Farbwahl.
Dann denke ich: Warum ist das wichtig? Ist es wichtig, was er ist? Er ist ein Kind. Er weiß noch nichts von den Gedanken, Bildern und Prägungen, die mich und die Gesellschaft rundherum umtreiben und verfolgen.
Er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt
Er entwickelt seinen eigenen Blick auf die Welt. Er vergöttert Pippi Langstrumpf und Lightning McQueen. Wenn er groß ist, will er gerade Maler und auch ADAC-Mann werden, um Autos abschleppen zu können. In der Kita spielt er am liebsten mit Mädchen. Seine derzeitige Lieblingsfarbe ist gelb. Rot und Pink und Glitzer gefallen ihm auch. Er liebt Autos und wünscht sich ein Puppenhaus.
Mein Sohn sucht sich aus einem reichen Angebot von Eindrücken heraus, was ihm gefällt. Für ihn ist selbstverständlich, was ein alter Teil in mir noch als Spannung empfindet.
Ich versuche, diese Spannung genau wahrzunehmen und bewusst mit ihm zu kommunizieren. Ich entscheide, welche Gedanken ich aussprechen und welchen Impulsen ich folge. Und damit auch, welches Bild von Gesellschaft, von Geschlechtsbeziehungen und Normalitäten ich ihm sprachlich vermittle.
Ich will meinen Sohn nicht darauf hinweisen, dass es was Besonderes sein könnte, dass er einen rosa-roten Regenanzug trägt. In dem Moment würde ich seine kindliche Freude daran in eine bestimmte Richtung lenken und die Schublade wäre geöffnet.
Wir sind dabei, was Neues zu lernen
Vielleicht lerne ich gerade mehr von ihm, als er von mir. Er sucht sich aus einem reichen Angebot von Eindrücken heraus, was ihm gefällt. Was er anzieht, wie er die Dinge wahrnimmt und wen er mag.
Ich darf einfach daneben stehen und ihn unterstützen, wenn er es braucht. Es aushalten, dass ich so anders geprägt wurde und versuchen, liebevoll mit meinen inneren Dämonen umzugehen. Ohne sie auf ihn loszulassen. Dadurch verändert sich was. In mir und für ihn. Wir können uns neu entscheiden.
Ihn begleitend, hoffe ich, dass in seiner Welt Geschlechterbilder immer noch durchlässiger werden. Dass Pink und Rosa einfach schöne Farben sind, die allen stehen. Und dass er rosa Kleidung ganz selbstbewusst zu jedem Anlass tragen wird.
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