Songs & Schnack: Tunic (Song For Karen)
Zuckrige Harmonien und ein Sound, bei dem die Sonne aufgeht: The Carpenters waren ein musikalisches Geschwister-Duo mit der vollen Breitseite 70er-Jahre-Sanftheit. Tunic (Song for Karen) ist ein bittersüßes Tribute an die weibliche Hälfte der Band, die Sängerin und Schlagzeugerin Karen Carpenter, gesungen von der weiblichen Hälfte der Band Sonic Youth, Kim Gordon - die übrigens ihrerseits kürzlich ein Buch darüber veröffentlichte, wie das so ist, als Girl In A Band.
Beim Start der Carpenters war Karen, die als Mädchen darauf bestand, das „männliche“ Instrument Schlagzeug lernen zu dürfen, zunächst der Sidekick ihres Bruders, dessen musikalisches Talent die Eltern fördern wollten. Schon bald aber wurde die mindestens ebenso talentierte Karen hinter dem Schlagzeug hervorgeholt und ans Mikrofon gestellt. Goldiges Mädel auf der Bühne - funzt kommerziell immer, so etwa; Karen spielte nur noch manchmal Schlagzeug. The Carpenters wurden weltweit populär; bis heute haben sie 90 Millionen Platten verkauft. Anstrengende Touren und der Druck, optisch und künstlerisch perfekt zu performen, blieben für die beiden Geschwister natürlich nicht aus. Karen entwickelte Anfang der 70er-Jahre eine restriktive Essstörung, an deren Folgen sie 1983 starb.
Kim Gordon singt über den Prozess des Sterbens, wie Karen nach ihrem Tod in den Himmel kommt. Träumen, eine Benommenheit oder Schwindel werden besungen, Karen steht auf der Schwelle und spricht einerseits mit ihrer Mutter und/oder anderen Zuhörern, kann aber andererseits schon vor ihr gestorbene Musiker im Paradies sehen.
Auch die 1970 gestorbene Janis Joplin ist schon da, Karen gründet eine paradiesische All-Star-Kombo. Und endlich darf Karen wieder ans Schlagzeug, ihr Lieblingsinstrument. Kim erfüllt Karen mit dem Song einen Wunsch. Karen kann von einer Wolke zu ihrer Mutter herunterrufen:
Ihr Ziel - Verschwinden - ist erreicht, Karen ist kleiner und kleiner geworden, bis sie ganz von der Erdoberfläche verschwunden ist. Gleichzeitig aber hat sie im Jenseits eine eigene Band bekommen, sich vom Bruder und der Plattenfirma emanzipiert, „I'm finally on my own“.
Als die 90er-Indie-Helden Sonic Youth das Lied veröffentlichten, war schon weit mehr über das Thema Magersucht bekannt, als 1981, zu dem Zeitpunkt, an dem Karen beschloss, sich professionelle Hilfe zu suchen. Während die 80er-Jahre noch ganz im Zeichen der Aerobic-Welle standen, Magersucht beforscht wurde, kam Mitte der 90er der Heroin Chic mit Kate Moss in Mode, eine kaputt und grungy aussehende Dünnheit ohne Muskeln, die Nacheiferer nach sich zog, um in den Nullerjahren von einem muskulöseren fettfreien Look (auch für Frauen), Clean Eating usw. abgelöst zu werden. Sind wir jetzt alle trainiert und gesund?
Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts von 2006 mit über 17.000 Teilnehmern zwischen elf und 17 Jahren zeigten sich bei fast 30 Prozent der Mädchen Essstörungen. Fast jedes zweite Mädchen empfindet sich als zu dick. Magersucht ist ein spezifisch weibliches Problem: In Deutschland sind aktuell etwa 100.000 Menschen betroffen, davon 90 Prozent Mädchen und Frauen zwischen 15 und 35 Jahren. 2015 wurden 8.079 Fälle von Magersucht in deutschen Krankenhäusern diagnostiziert, dazu im Vergleich im Jahr 2000 nur 5.363. Und das sind nur die diagnostizierten Fälle!
Die Oberflächenerscheinung der jeweils gefragten Körper sagt wenig darüber aus, wie gesund oder ungesund das Essverhalten ist. Muskeln sehen beispielsweise nach Kraft und Gesundheit aus; wenn man sich Bodybuilder-Ernährungspläne ansieht, entstehen aber Zweifel. Ein „gesundes“ Essverhalten sagt seinerseits wenig darüber aus, wie gesund die Köperwahrnehmung und die Psyche ist. (Karen zum Essen und schnellen Zunehmen zu bringen, war in ihrem Fall sogar kontraproduktiv und belastete ihr Herz zu stark.)
Essstörungen gibt es nicht erst seit dem Erfolg von Supermodels, sie sind ein Komplex von Krankheiten, die in erster Linie Frauen betreffen. Bereits in der Salpêtrière wurden erste Fälle dokumentiert; seit mehr als hundert Jahren sind immer mehr Mädchen und Frauen davon betroffen. Anorexie gehört zu den psychischen Erkrankungen mit der höchsten Sterberate. Die Dunkelziffern sinken, da erfreulicherweise das Bewusstsein dafür geweckt wurde, aber was bedeutet das für den Umgang mit Essstörungen in unserem Alltag?
Essstörungen sind mehr als Essen oder Nicht-Essen: Eistee und grünen Salat besingt Kim Gordon nur in einem kleinen Vers. Die Tunika, das in den 70ern beliebte weite Kleidungsstück, das sich ideal eignet, um zu hohes oder zu niedriges Körpergewicht zu verstecken, hat es dagegen sogar in den Titel geschafft. Karen, die man für Konzerte und Fernsehauftritte tatsächlich in kaschierende Walle-Walle-Gewänder gesteckt hatte, trägt im Himmel eine Art Taufhemd oder Engelsgewand, und endlich fühlt sie sich leicht. Es geht im Song um Karens Selbstwahrnehmung und zugrunde liegende Probleme jenseits des Diätens und Erbrechens.
Gordon nimmt hier die prototypische Situation einer Körperschemastörung und erweitert sie um die Problematik des Performertums, das sie selbst auch kennt. Wenn Karen immer kleiner wird, aber gleichzeitig immer größer, ist das nicht nur (vermeintlich) ihr Körper, sondern auch ihr Fame und die damit verbundene Fremdkontrolle, die ihre Magersucht triggert. Kleiner werden, der Aspekt des Gefüttertwerdens, der Karen von Kim Gordon in den Mund gelegt wird, die Überpräsenz der „Mommy“ im Song, sind regressive Wünsche, ein kindliches Bedürfnis, auf das es auch bei Ellen in To the Bone rausläuft.
Wieder klein sein, Emanzipation andererseits, das wird in dem Karen Carpenter gewidmeten Song als zentraler Konflikt herausgestellt und gleichzeitig per Musik gelöst. Die tragische Geschichte um Karen Carpenter und ihren Tod per Songwriting weiterzuerzählen und zärtlich zu einem Ende zu bringen, ist ein schönes Beispiel für Solidarität mit den Mitteln von Kunst und von Musikerin zu Musikerin.