Brecht das Schweigen! Die Macher*innen des „Not your Opfer“- Podcasts über sexualisierte Gewalt im Interview

Brecht das Schweigen! Die Macher*innen des „Not your Opfer“- Podcasts über sexualisierte Gewalt im Interview

Seit letztem Jahr gibt es einen neuen Podcast und wir können nicht genug betonen, wie toll und wichtig wir ihn finden: Der „Not your Opfer“-Podcast von Birte Opitz und Lilian Schwerdtner. Der Podcast soll „deutlich machen, dass Sprechen über sexualisierte Gewalt nur dann beschämend und verletzend ist, wenn Betroffene nicht selbst entscheiden können, wie darüber gesprochen wird.“ Während die heftigen Reaktionen auf #metoo abgeebbt sind, scheint das Sprechen über sexualisierte Gewalt wieder freudig unter den Tisch gekehrt zu werden. Doch mit der zunehmenden häuslichen Gewalt zu Pandemiezeiten, zu der auch zu einem großen Teil sexualisierte Gewalt zählt, und die Debatten rund um die Vorwürfe gegen Luke Mockridge, die sich ja nur in eine kontinuierliche Reihe einfügen, ist es umso wichtiger das zu ändern. Wir sprechen mit Lilly und Birte über den Podcast, sexualisierte Gewalt und wie wir aus intersektional feministischer Perspektive dagegen vorgehen können. 

Logo.jpg

Liebe Lilly, liebe Birte, könnt ihr euch kurz unseren Leser*innen vorstellen?

Birte: Hallo Wepsert, danke für das Interview! Ich bin Birte und ich arbeite hauptsächlich als Performerin und Tanzpädagogin. Zur Zeit beschäftige ich mich viel mit der Verbindung von Tanz und Selbstbehauptung, da ich auch eine Ausbildung zur feministischen Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstrainerin habe. Neben meiner Perspektive als Betroffene von sexualisierter Gewalt bringe ich in den Podcast auch mein Wissen als Trainerin ein. 

Lilly: Hallo, ich bin Lilly und ich bin Autorin, Lektorin und „Theoretikerin“, wenn man das so sagen kann. Ich habe Philosophie studiert und denke viel über das Thema Sprechen über sexualisierte Gewalt nach.

Birte: Und dann gibt es noch Jule, die auch in unserer neuen Folge zu hören sein wird. Jule unterstützt uns konzeptionell und hat unter anderem unser tolles Logo entworfen. 

Euren Podcast „Not your Opfer“ habt ihr letzten Herbst ins Leben gerufen. Wie habt ihr euch gefunden und wie seid ihr auf die Idee eines Podcasts gekommen?

Lilly: Wir haben uns durch das Berliner Kollektiv Actions against Rape Culture kennengelernt. Eigentlich wollten wir mit dem Kollektiv Workshops machen, direkt mit anderen Betroffenen in Kontakt kommen und zum Beispiel Empowerment-Strategien entwickeln und teilen. Durch Corona ging das letztes Jahr auf einmal nicht mehr und wir haben uns gefragt, was unsere Möglichkeiten sind, um unsere Ziele trotzdem zu verfolgen. Die Idee zum Podcast ist schon im Frühling 2020 entstanden, aber es hat dann doch erstaunlich lange gedauert, bis wir mit den ersten beiden Folgen online gegangen sind. :)

An wen richtet sich euer Podcast?

Birte: Wir wollen sowohl Betroffene als auch alle anderen interessierten Menschen erreichen. Wir haben sowohl diskursivere Folgen, in denen wir Informationen geben und aufklären wollen, als auch eine Empowerment-Reihe. In der sammeln wir Strategien, wie wir uns trotz bzw. gegen sexualisierte(r) Gewalt empowern können. Wir richten den Fokus auf die Situation von Betroffenen, aber sich zum Beispiel mit den eigenen Grenzen auseinanderzusetzen, ist ja für alle relevant. Sexualisierte Gewalt ist ein strukturelles Problem, daher bin ich davon überzeugt, dass alle Menschen schonmal bewusst oder unbewusst, selbst oder in ihrem Umfeld damit zu tun hatten. Mir ist es wichtig, für diese Wahrnehmung zu sensibilisieren. Es darf nicht dabei bleiben, dass sich nur Betroffene mit dem Thema beschäftigen! Daher die herzliche Einladung auch an diejenigen, die sich jetzt nicht direkt angesprochen fühlen, gerne mal reinzuhören.. ;) 

Was hat es mit dem Namen auf sich? Welche Rolle spielt das Wort „Opfer“ im Kontext sexualisierter Gewalt?

Lilly: Das ist eine spannende Frage. Um den Begriff „Opfer“ drehen sich in Bezug auf sexualisierte Gewalt ziemlich viele Debatten. Die einen kritisieren das damit verknüpfte, stereotype Bild von einer „schwachen“, traumatisierten Person, die an der erlebten Gewalt „zerbrochen“ ist und nichts anderes mehr macht als sich waschen und schämen. Das sind oft Menschen (wie wir auch), die sich selbst zum Beispiel als Betroffene oder Überlebende bezeichnen, um sich davon abzugrenzen. Die anderen wiederum benennen sich vielleicht bewusst als Opfer, um zu betonen, dass diese Ohnmacht und Schwäche sehr wohl ein Teil von ihnen ist, was aber auch voll okay ist - denn Schuld daran sind ja nicht sie selbst, sondern die Täter*innen, die ihnen die Gewalt angetan haben. Was wir mit dem Namen Not your Opfer ablehnen, sind diese gesellschaftlichen Zuschreibungen, denen wir nicht entsprechen wollen. Betroffene werden dadurch meiner Meinung nach in eine unmündige Position hineingedrängt, was ja letztlich auch eine Form von Gewalt oder zumindest verweigerter Anerkennung ist. Indem wir im Podcast selbstbestimmt über sexualisierte Gewalt sprechen, verlassen wir diese „sprachlose“ Position.

Birte: Für mich ist unser Titel auch ein Schutz. Denn sprechen mich Menschen mit gaanz viel Mitleid auf den Podcast an, haben sie anscheinend nicht richtig zugehört. 

Wenn wir schon bei sexualisierter Gewalt sind, warum heißt es so und genau so?

Birte: Zum einen ist es ein Überbegriff und fasst verschiedene Gewaltformen wie Belästigung, Nötigung, Vergewaltigung etc. zusammen. Beim Wort Vergewaltigung oder auch bei dem von mir abgelehnten Begriff „sexueller Missbrauch“ haben die meisten Menschen stereotype Vorstellungen davon, wie das auszusehen hat. Das kann aber fatal sein, denn viele Gewalterfahrungen werden dadurch nicht als solche erkannt. Zum anderen macht der Begriff klar, dass es um Gewalt geht, die sexualisiert wurde. Sexualisierte Handlungen oder Aussagen sind nur ein Tool um Macht und Kontrolle auszuüben. Es ist ein großes Missverständis, dass sexualisierte Gewalt etwas mit Sex zu tun habe, so wie es zum Beispiel der Begriff „sexuelle Gewalt“ vermuten lässt. Sexualisierte Gewalt ist Gewalt und nur das und nichts anderes. 

Was bedeutet es für euch, öffentlich über sexualisierte Gewalt zu sprechen? Welchen Herausforderungen seid ihr begegnet?

Birte: Puh, ich glaube diese Dimension wird mir erst nach und nach bewusst. Ich habe mit dem öffentlichen Sprechen ja gerade erst angefangen und werde sicherlich noch viel lernen (müssen). Da gibt es zum einen die persönliche Komponente: In meinem Umfeld bin ich jetzt als Betroffene geoutet. Auch vor nahen Menschen, die ich bislang sehr bewusst von meinen persönlichen Erfahrungen fern gehalten habe. Dann wiederum genieße ich es auch sehr, mein Umfeld mit dem Thema und ihren eigenen Stigmata gnadenlos zu konfrontieren. Am herausfordernsten finde ich dennoch die Komplexität von Betroffenheit. Betroffenheit kann sehr unterschiedlich sein und mit unserer Meinung riskieren wir auch immer, andere Betroffene zu verletzen. Das fängt schon bei unserem Titel an: Wie Lilly ja gerade schon erklärt hat, gibt es Betroffene, die sich selbstbestimmt als Opfer bezeichnen …

Lilly: Was du gesagt hast, sehe ich auch als unsere größte Herausforderung, Birte. Allgemein gesprochen sind uns ja noch erstaunlich wenig Widerstände begegnet, was ich unter anderem darauf zurückführe, dass wir keine konkreten Täter*innen benennen oder Konsequenzen einfordern. Ich spüre aber bei mir den Drang, „allen“ oder zumindest möglichst vielen Betroffenen mit dem Podcast gerecht zu werden und ihre Gedanken und Gefühle mit einzubeziehen. Das geht aber eigentlich gar nicht, denn, wie du schon gesagt hast: Betroffenheit ist wahnsinnig komplex. Andere Betroffene mit dem Podcast zu verletzen oder anzutriggern, ist mein Worst-Case-Szenario. Grundsätzlich finde ich es gleichzeitig beängstigend und empowernd, als Betroffene öffentlich sichtbar zu sein. Ich denke mir: Ich brauche niemanden, der FÜR mich spricht. Ich kann sehr gut für mich selber sprechen! Wer jetzt nicht mehr zuhört, der will offensichtlich nicht, denn das in Bezug auf sexualisierte Gewalt vielbeschworene Schweigen ist schon längst gebrochen.

Aus intersektional feministischer Sicht, welche Ebenen der Diskriminierung sind bei sexualisierter Gewalt verwoben? Oder anders ausgedrückt: Wie äußern sich weiße, cis-männliche, kapitalistische Machtansprüche über sexualisierte Gewalt?

Lilly: Sexualisierte Gewalt ist letztlich ja ein Werkzeug der Unterdrückung - egal welcher Unterdrückung. Der*die Täter*in übt Macht und Kontrolle aus. Das bedeutet, dass sexualisierte Gewalt nicht automatisch mit Sexismus einhergehen muss, auch wenn das offensichtlich sehr oft der Fall ist: Die allermeiste sexualisierte Gewalt wird durch cis Männer gegen FLINTA ausgeübt. Grundsätzlich können durch sexualisierte Gewalt aber auch andere Formen der Diskriminierung wie zum Beispiel Rassismus, Antisemitismus oder Homo- und Transfeindlichkeit stabilisiert werden. Dazu kommt, dass auch Glaubwürdigkeit durch soziale Macht beeinflusst wird. Wer zum Beispiel nicht-weiß, queer oder materiell arm ist, der*die hat nicht nur ein wesentlich höheres Risiko, sexualisierte Gewalt zu erfahren, sondern auch viel geringere Chancen, dass ihm*ihr geglaubt wird - nicht nur im sozialen Umfeld, sondern auch zum Beispiel durch Polizeibeamt*innen. Wenn die einen für unglaubwürdig halten, dann ermitteln sie vielleicht nicht so gründlich, was wiederum den Erfolg von Anzeigen oder Gerichtsverfahren schmälert. Das wiederum sorgt dafür, dass diese Betroffenen sich von vorneherein ungern an Strafverfolgungsbehörden wenden, was im Umkehrschluss wiederum deren Bild von „typischen“ Fällen oder Konstellationen verzerrt. Naja, es ist kompliziert, und alle problematischen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse sind auf vielfache Weise in den Komplex sexualisierte Gewalt verwoben.

Ihr deckt viele verschiedene Themen ab und ich muss gestehen, dass auch ich überrascht war, wie schlecht ich selbst eigentlich informiert bin. In eurer letzten Podcastfolge #5 geht es zum Beispiel um Vergewaltigungsmythen: „vorurteilsbehaftete beziehungsweise falsche Aussagen und Auffassungen über sexualisierte Gewalt, über Betroffene und über Täter*innen. Sie verharmlosen oder leugnen sexualisierte Gewalt“ (Folge 5, Minute 5:02). Diese Mythen spuken in unserer aller Köpfen herum und sorgen für viel Leid. Was können wir alle tun und was kann die Politik tun, um diese Mythen endlich zu entmythisieren?

Birte: Generell wünsche ich mir gute Aufklärung, denn leider gibt es immer noch sehr viel Aufklärungsarbeit, die Mythen reproduziert. Dazu braucht es einen intersektionalen Austausch, damit wir lernen, wie Machstrukturen ineinandergreifen. Für beides braucht es mehr strukturelle und finanzielle Unterstützung. Ich will keine Talkshow mehr sehen, in der über Betroffene gesprochen wird, anstatt sie selber einzuladen. Ich mag auch keine Filme und kein Theater mehr sehen, keine Bücher mehr lesen, in denen immer die gleichen Stereotype erzählt werden. Stattdessen würde ich mich über bestärkende Narrative von Widerstand, Solidarität und Kollektivität freuen. 

Lilly: Letztendlich müssen diese Mythen auch ganz praktisch „entmachtet“ werden. In der Folge, die du ansprichst, betonen wir ja, dass Vergewaltigungsmythen dazu führen, die Handlungs- und Bewegungsfreiheit von FLINTA einzuschränken. Ich finde es also wichtig, dass FLINTA sich vermeintlich „unsichere“ Räume aneignen, wie zum Beispiel den öffentlichen Raum bei Nacht, oder selbstbestimmte Sexualität leben. Das ist aber gar nicht so einfach, denn die Ängste, die durch Vergewaltigungsmythen geschürt wurden und werden, sind ja real. Es bedarf also einer guten Mischung aus Aufklärung und Empowerment, um den Mut finden, den Verhaltensnormen, die durch Vergewaltigungsmythen etabliert werden, nicht mehr zu folgen. Denn eine Norm, die keine*r (mehr) beachtet, verliert dadurch ihre Wirkmacht.

Welche Aussagen hört ihr im Bezug auf sexualisierte Gewalt zu oft und welche zu selten?

Lilly: Ich höre viel zu selten: „Ich habe auch schon mal sexualisierte Gewalt ausgeübt oder die Grenzen einer anderen Person überschritten.“ Betroffene von sexualisierter Gewalt werden immer sichtbarer, aber was ist mit den Täter*innen? Ich erwarte eine Reflexion und Verantwortungsübernahme für die eigenen Taten von ihnen. Dazu sind viele Menschen ganz offensichtlich nicht bereit. Es wäre aber die Basis, um zu einer gewaltfreieren Gesellschaft aufzubrechen. Es gibt so viele von euch, also fangt jetzt endlich an!

Birte: Oh ja, denn was man auf jeden Fall zu oft hört ist: „Was, mein*e Freund*in X ist voll toll, der*die würde so was ja nie machen.“ Wenn es so viele Betroffene gibt, müssen ja auch irgendwo die Täter*innen sein?

Lilly: Ich höre auch zu oft, dass es ja so ein schwieriges Thema sei oder dass wir so mutig sind. Einerseits: Ja, klar, stimmt, und danke. Andererseits zeigt es eben deutlich, dass wir noch lange nicht da sind, wo wir hinwollen: In einer Welt, in der man nicht mutig sein muss, um sexualisierte Gewalt zu benennen.

Welche Werke, Videos, Podcasts, Bücher haben euch am meisten geholfen, euch auf den Podcast vorzubereiten? Welche Weiterles/-hör-Tipps habt ihr für unsere Leser*innen?

Lilly: „Vergewaltigung“ von Mithu Sanyal ist natürlich ein modernes Standardwerk zum Thema. Ansonsten finde ich auch den Sammelband „Wege zum Nein“ ganz toll, der bei edition assemblage erschienen ist. Wer auf Englisch lesen mag, dem*der empfehle ich noch „Rape and Resistance“ von Linda Martín Alcoff.  Auch die Miniserie „In the NO“ des US-amerikanischen Podcasts Radiolab finde ich sehr gut. Grundsätzlich finde ich es aber sehr schwer, da einzelne Werke herauszugreifen. Auch manches, dem man heute, als intersektionale Queer-Feministin, inhaltlich nicht mehr so ohne Weiteres zustimmen würde, war in den 70er, 80er oder 90er Jahren bahnbrechende Pionierarbeit. Das heißt, wir sind zahlreichen Vorkämpfer*innen verpflichtet, ohne die wir nicht dort stehen würden, wo wir heute sind.

Birte: Für mich war vor einigen Jahren „Untenrum frei“ von Magarete Stokowski eine ziemliche Erkentnis. Ich finde den theoretischen Zugang zum Thema sehr wichtig, dennoch ist Lesen oder Podcast hören nicht für alle passend. Bei Themen wie zum Beispiel Grenzen spüren, sich Raum nehmen oder die eigene Stimme zu erheben, liegt der Zugang über den eigenen Körper nahe - da gibt es so viel verkörpertes Wissen zu lernen! Ich habe schon viele tolle Workshops mitgemacht, zum Beispiel aus dem Bereich sexological bodywork, aus der feministischen Selbstbehauptung oder dem Wendo, aber auch ganz generell beim Tanzen oder der Stimmarbeit. Allerdings ist es wichtig, dass solche Angebote in einem sicheren Rahmen stattfinden und, wenn nötig, traumasensibel sind. Gerade für Betroffene kann der Zugang über den Körper sehr wirksam sein - auch wenn es erst mal eine Hürde sein könnte. In Pandemiezeiten sind diese wichtigen Angebote leider nochmal schwieriger zu erreichen ... dennoch gibt es zum Beispiel viele Frauengesundheitszentren und Body Work Zentren, die solche Kurse auch online anbieten. Ich selbst biete auch Kurse zum Thema an. ;) Und Lilly du ...

Lilly: Ja, ich habe selbst ein Buch zum Thema geschrieben, das im Mai 2021 auch beim Verlag edition assemblage erscheint. Es heißt „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt. Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“.


Wir sind gespannt auf das Buch und weitere Folgen, danke euch beiden für das Interview!

Wer Interesse hat an einem Workshop bei Birte hat hier. Und hier kann man Lillys Buch vorbestellen. Den Podcast “Not your Opfer” findet ihr auf allen gängigen Sound-Streaming-Plattformen und auf ihrer Website hier.

Cartoons von Xavi Inman

Cartoons von Xavi Inman

Lesetipp: Outfits

Lesetipp: Outfits