Was nicht passt
Während Polster schrumpfen sollen, wächst die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper auf monströse Ausmaße an. Kleidergrößen werden zu einem Bewertungssystem. Wem nutzt das eigentlich? Und woher kommt das?
90–60–90, diese Körperabmessungen für Oberweite, Taille und Hüftweite werden immer wieder genannt, wenn es um Körpermaße bei Frauen geht. Die fixen Zentimeterangaben galten lange als das optisch ideale Verhältnis von Brust zu Taille zu Hüfte, auch heute werden sie schnell genannt, wenn es um Traumkörper geht. Kaum eine Frau entspricht aber diesen Maßen, denn der menschliche Körper kommt in den vielfältigsten Formen daher. Kleine Brüste, hängende Brüste, dicker Po, dicker Bauch und Po, ausladende Hüften, kein Po, dicke Beine, runder Rücken oder fallende Schultern, Hohlkreuz, breite Schultern, klein, groß, schmal, breit, kurvig, usw. usf. So vieles ist am Körper möglich und jede Ausprägung ist voll ok.
Um Kleidung günstig herstellen zu können, und in Zeiten, da eine Maßanfertigung weit teurer kommt als schnell gefertigte Kleidung von der Stange, erleichtern uns Konfektionsgrößen den Einkauf passender Kleidung. Man kennt seine Größe und kann sich das neue Teil kaufen, ohne es anzuprobieren – zumindest theoretisch. Warum nur theoretisch? Um das zu erklären, muss ich ein bisschen weiter ausholen.
Wo in der Nachkriegszeit noch Päppelprodukte für vollere Kurven beworben wurden und dralle Pin-ups dem Schönheitsideal entsprachen, sind wir über die 60er-Jahre und Twiggy, die 80er-Jahre mit der Aerobic-Welle, die 90er mit Slim Fast und Heroin Chic und die Nullerjahre mit Size Zero im neuen Jahrtausend angekommen. Ein schlankes, sportliches Ideal wird zur Zeit propagiert. Dass Schönheitsideale sich mit der Zeit ändern und von Kultur zu Kultur abweichen, wird den meisten bekannt sein, die Implikationen sind spannend. Denn trotz des schnellen Wandels gibt es Konstanten.
Durch alle Jahrzehnte und die unterschiedlichsten Schönheitsideale zieht sich die weibliche Tradition des Vermessens, Abwiegens und Optimierens des eigenen Körpers. Es zählen die Zentimeter des Körperumfangs an verschiedenen Stellen, das Gewicht auf der Waage und natürlich die Kleidergröße, in die man hineinpasst, ohne dass der Knopf abspringt. In den letzten Jahren überwog hier deutlich der Trend, je kleiner, also schlanker, desto besser. Der Diskurs um Sizeism, also die Diskriminierung von Menschen aufgrund der Größe, Breite oder des Körpergewichts hat uns aber auch für alle anderen Formen sensibilisiert, von einem wie auch immer gearteten Ideal abweichende Körper abzuwerten.
Body- und Fatshaming haben eine lange Tradition, was das dazu vorhandene Vokabular beweist. Waren es vor 60 Jahren noch die mangelnden Kurven – eine Frau mit kleinen Brüsten hatte „Wespenstiche“, eine lange, schmale Frau bezeichnete man als „Bohnenstange“, eine Frau ohne Kurven als „Bügelbrett“ – ist es heute vor allem das Fett, dem die westliche Frau ihren Kampf angesagt hat. Das pauschale Weniger-werden-Wollen wird nur unwesentlich zurückgenommen durch das Ziel „Fett an den falschen Stellen“ verlieren zu wollen. Und weiter wird gemessen, gezählt und optimiert, mit Fettmesswaage, Maßband und der Jeans in der Wunschgröße, in die man sich erst hinein-diäten muss. Dabei ist insbesondere einen „guten Körper“ oder „schlechten Körper“ an Kleidergrößen festmachen zu wollen, gleich aus mehreren Gründen Unsinn.
Zu enge Jeans kaufen, den Körper passend machen
Weil ich mich für Mode und Kleidermachen interessiere, setze ich mich auch mit Konfektionsgrößen auseinander. Ich bin neugierig! Wie entsteht Kleidung, wie entstehen Kleidergrößen? Konfektionsgrößen werden mithilfe von Größentabellen angesetzt, die auf großen Datenerhebungen beruhen. Viele, viele Frauenkörper, alle aus einem Land, z.B. Deutschland, werden vermessen, dann wird ein Mittel errechnet, das man den Maßen für die einzelnen Kleidergrößen zugrunde legt. Bei diesen Maßtabellen herrscht Vielfalt, denn andere Länder erheben eigene Daten, da Körpertypen je nach Zeit, Land und Ethnie abweichen. Jede, die schon mal französische oder italienische Mode entsprechend der deutschen Größe gewählt hat, wird bemerkt haben, dass hier nicht D 40 = IT 40 entspricht, man muss größer wählen. Ist die deutsche Frau etwa eine Walküre? Soziodemografische Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle dabei, welches Modehaus sich für welche Größentabelle entscheidet – jeweils passend zur eigenen Zielgruppe können die Größen individuell angesetzt werden. Das erklärt, warum die Hose eines Herstellers ganz anders ausfallen kann als die eines anderen.
Vier Körpertypen für rund 3,7 Milliarden Frauen
Sondergrößen wie Petite-, Tall-, Curvy-, Plus-Size usw. sind weitere Versuche der Bekleidungsindustrie, der Vielfalt der Körperformen gerecht zu werden, machen aber gleichzeitig weitere Schubladen auf. In diese Schubladen lässt sich auch das umstrittene Lieblingsspielzeug Barbie einordnen – das seit einiger Zeit in den Körpertypen Curvy, Petite und Tall erhältlich ist. Werden hier Mädchen auf die für sie jeweils „richtige“ der bis dato vier Modelinien vorbereitet? Konfektionsgrößen orientieren sich also an einer errechneten Durchschnittsfrau, hinzu kommen marktstrategische Überlegungen der Modeindustrie.
Kleidergrößen stiften Identität
Vanity Sizing beschreibt das Vorgehen vor allem großer Bekleidungshersteller, das einzelne Teil größer zu nähen und die auf dem Etikett ausgewiesene Größe dabei nicht zu verändern. Die Teile fallen so größer aus. Durch diesen bereits seit einigen Jahren bekannten Trick wird dem Käufer vorgegaukelt, er passe immer noch in dieselbe, kleine Größe. Da vor allem viele Frauen dazu neigen, eine „gute, richtige“ Größe für sich anzusetzen oder in die Größe ihrer Jugend passen zu wollen, motiviert sie das, das Teil zu kaufen. „Juhu, ich bin noch eine 36!“ – die Kleidergröße als identitätsstiftendes Merkmal.
Wie Kleidungsstücke ausfallen, ist also nicht zu vereinheitlichen. Hinzu kommt noch, dass in der billigen Massenproduktion selbst innerhalb einer ausgewiesenen Konfektionsgröße und eines Modells die fertige Größe derart schwanken kann, dass man sich auf die Zahl im Etikett nicht verlassen kann. Gleichzeitig zur Ausdehnung der Konfektionsgrößen über das Vanity Sizing werden im Ready-to-wear-Sektor immer kleinere Größen in der Damenabteilung angeboten. Ein zehn Jahre altes Mädchen kann sich so schon mit Damen-Modellen eindecken und stylen wie eine Erwachsene. Nur im Luxusbereich dagegen findet man hier und da Bekleidung, bei der die aktuelle 36 noch die gleiche 36 von vor 20 Jahren ist – man bleibt scheinbar elitär und hat das Vanity Sizing nicht nötig. Eine verwirrende Vielfalt an Handhabungen.
Immanenter Widerspruch
Es sind widersprüchliche Bewegungen: Wo einerseits Frauen in Größe 42 als Plus-Size-Models präsentiert werden, wird den Abmessungen der begehrenswerten Größen bei den Bekleidungskonzernen mehr und mehr zugegeben, bis sie nur noch wenig mit der vormaligen Größe zu tun haben. Gemein haben die gegenläufigen Entwicklungen aber: weder zu wirklichem Plus-Size noch zur getragenen „großen Größe“ möchte man wirklich stehen. Weder soll die unerwünschte Zahl im Etikett der eigenen Kleidung stehen, noch möchte man sich wirklich große Größen an den Models in den Werbeanzeigen ansehen – es wird unsichtbar gemacht.
Ursprünglich vom echten Körper ausgehend und mit dem Wunsch, die Kleidung passend für den Körper zu machen, wird es nun häufig andersherum praktiziert. Die abstrakte Größe wird zum Ideal, der Körper wird für das Industrieprodukt passend gemacht. Wo die Kleidung zwickt, soll der Körper weggeschmolzen werden. Etwas ähnlich Perverses fällt mir nicht ein.
Körper passend für die Industrie formen
Ein schönes Durcheinander
Wenn Größenangaben aus marktstrategischen und produktionstechnischen Gründen nicht mehr aussagekräftig sind, was bleibt da der Nutzerin in der Bekleidungskette übrig, als alles anzuprobieren? Was einerseits nervig ist – die Größenverteilung scheint willkürlich, alles fällt verschieden aus und im Grunde bräuchte man gar keine Kleidungsgröße mehr ins Etikett schreiben – bringt auch einen positiven Aspekt mit: Verwirrung. Ein schönes Chaos. Wieso gefällt mir das? Weil man durch die verwirrten Größenangaben nicht mehr messen kann. Weil die Größe dadurch egal wird und nur wichtig, ob das anprobierte Teil gut passt. Wer weiß schon, was es wirklich für eine Größe ist? Es ist auch egal – denn was Kleidung können muss, ist, gut und richtig für unseren Körper sein. Ein gutes Kleidungsstück passt sich den Formen des individuellen Körpers an, umarmt die Kurven, schmiegt sich an, sitzt wie eine zweite Haut. Sie ist eine beschützende und schmückende Hülle, die dazu geschaffen wird, Menschenkörper zu würdigen. Egal wie der Körper ist, er ist nie falsch. Es ist die Kleidung, die nicht passt.
Support your local Änderungsschneiderei!
Neben extensivem (und auch nicht ressourcenschonendem) Durchprobieren von Kleidung fiele mir noch etwas ein, was der Modebegeisterten bleibt: das Passendmachen der Kleidung, das Selbernähen oder Nähenlassen. Neben dem ethischen Aspekt, das Entstehen der eigenen Kleidung überblicken zu können, birgt die lokale Änderungsschneiderei oder die heimische Nähmaschine die Möglichkeit, perfekt passende Teile zu bekommen, die von der Stange niemals so sitzen würden. Seit Jahrzehnten so praktiziert, wenn es z.B. um das Kürzen von Hosenbeinen geht, ist das Anpassen auch in der Breite zumeist möglich. Die Investition in ein gutes Teil rentiert sich, wenn dieses lange getragen werden kann – und kleine Körperveränderungen flexibel mitmacht.
Der Körper war zuerst da
Auch Kleidung ganz neu auf die eigene Figur geschneidert muss nicht unbedingt teurer sein als das schicke Teil aus dem Online-Shop. Maßkonfektion ist hier das Stichwort, die von Anfang an individuelle Körpermaße berücksichtigen kann. Und wer die Fertigkeit besitzt, näht sich seine Kleidung ganz selbst und passt den Schnitt auf die eigenen Maße an. Den Prozess des Maßnehmens und Anpassens der Kleidung (und nicht des Körpers!) macht in bester DIY-Manier erfahrbar, wer hier das Sagen hat. Ganz einfach: Der Körper kommt zuerst.
Wer will sich noch wegen der „falschen Größe“ martern, wenn sie weiß, nach welchen vielfältigen und seltsamen Kriterien Kleidungsgrößen angesetzt werden? Es wird Zeit, die Verhältnisse wieder gerade zu rücken: unsere Körper sind Unikate, und sie sind richtig, so, wie sie sind. Lasst uns das feiern! Die Bekleidung hat sich dem anzupassen. Sie darf sich unter die Gratulanten einreihen.
☞ Weiterlesen:
- Size Zero: Wikipedia-Artikel zu Size Zero (englischsprachig)
- Bodyshaming: Celsy Dehnert: Schluss mit Body Shaming! (24. Juni 2016 auf fielfalt.de)
- Vanity Sizing: Petra Steinberger: Hab’ 8! (17. Mai 2010 auf sueddeutsche.de)
- Körperideale und Kleidung: Tillmann Prüfer: Die Vermessung der Frau (6. September 2012, Zeitmagazin Nr. 37)
- zum Launch der Diversity-Barbies 2016: Regine Henkel: Ist Size-Zero out? Mattel launcht erste Barbie mit rundlicher Figur (9. Februar 2016 auf fashionunited.de)